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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Mignola
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war. Er hob die Hand und spürte die tote Haut, die sein Steingesicht überspannte.
    Was bin ich? , fragte er sich. Doch er glaubte es zu wissen. Ein Golem. Wieder starrte er auf seine steinernen Hände. War er ein Mensch, der in einen Golem verwandelt worden war, oder ein Golem, der sich einmal als Mensch verkleidet hatte?
    Etliche lange Minuten ließ Joe die Strömung an sich vorüberziehen und hielt sich die Hände so dicht vors Gesicht, dass er durch das dunkle Wasser, in dem keines Menschen Auge etwas gesehen hätte, jeden Riss und jeden Spalt erkannte. Trauer um den Mann, der er gewesen war,erfasste ihn. Zugleich überkam ihn ein merkwürdiges Hochgefühl, als ihm Bruchstücke viel älterer Erinnerungen vor Augen traten.
    Er versuchte, sein Gedächtnis zu ordnen. Ein Bild stieg in seinen Gedanken auf, das Bild von einem Mann mit langer Nase und dünnem, flaumigem Haar, der eine Pfeife rauchte. Seine Augen, aus denen Humor und Entschlossenheit zugleich sprachen, hatten einen durchdringenden Blick.
    Church , dachte Joe.
    Einen Moment lang war der Name ihm entfallen. Dieser Mann war sein größter Freund gewesen. Dennoch hatte Joe Mühe, ein klares Bild vom Gesicht dieses Mannes abzurufen. Die Erinnerungen an sein Leben als Mensch verblassten, zersplitterten und schlüpften davon wie die Spinnweben eines Traumes beim Erwachen.
    Dennoch dachte Joe noch immer an das Mädchen, wie es geschrien hatte, als die Männer in den Masken es davontrugen, und ihm war klar, dass er etwas unternehmen musste. Er spürte eine merkwürdige Unsicherheit im Wasser ringsum, als wappnete sich die ganze Stadt gegen einen Angriff, vor dem nichts sie schützte. Eine Stelle links von ihm strahlte durch den Tunnel eine Bedrohung aus, eine entstellte Wirklichkeit, als wäre eine ansteckende Krankheit dorthin vorgedrungen.
    Joe wandte sich in diese Richtung und marschierte durch das tiefe Wasser am Grund des Tunnels. Er suchte nach der Quelle der Infektion und nach einem Mädchen, dessen Namen er nicht mehr wusste.

    Mr.   Churchs Augen öffneten sich flatternd, und er fand sich am Fußboden seines Studierzimmers wieder, inmitten der Überreste des Rituals. Die Kerzen waren heruntergebrannt und erloschen, als die Dochte in dem Wachs ertrunken waren, das sie selbst geschmolzen hatten. DasBuch lag, wo es hingefallen war, die Seiten verknickt und zerrissen. Der Mörser, die Stößel und die Phiolen mit den Kräutern, die Church über die Kerzenflammen gestreut hatte, lagen auf den Dielenbrettern.
    »Ist es   … getan?«, krächzte er, und die Gewaltigkeit der Frage erfüllte ihn mit einer Trauer, wie er sie noch nie erlebt hatte.
    Es war Nacht geworden, doch trotz des Dunkels sah Mr.   Church Schatten innerhalb von Schatten im Studienzimmer, und die Silhouetten seiner alten Freunde manifestierten sich wieder, einer nach dem anderen.

    Hawthornes Gespenst waberte zwischen Existenz und Verschwinden, auch wenn dies an Churchs Augen liegen konnte, dem Flackern seines erlöschenden Lebenslichts.
    Es ist vollbracht , sagte der Geist.
    Mr.   Church nickte. Sein Atem stockte. Nachdem sein Inneres keinen Dampf mehr abgab, der ihn wärmte, fühlte er sich so kalt wie Eis. Die Mechanik in seinem Körper war zum Stillstand gekommen; nun war auch die letzte Zauberkraft versiegt, die ihn noch am Leben erhalten hatte. Doch wenn er starb, war es am besten so. Er hatte zahllose Verbrechen aufgeklärt, doch am Ende hatte er das größte aller Verbrechen selbst begangen. Er hatte seinen besten und treuesten Freund dazu verurteilt, wieder als Golem auf Erden zu wandeln   … vielleicht für immer.
    Er konnte nicht atmen. Kein Hauch Luft blieb ihm mehr. Er hatte das Gefühl, seine Brust fiele in sich zusammen. Jene Teile seines Körpers, die noch menschlich waren und von dem Jungen stammten, derer vor langer Zeit gewesen war, schrien nach Sauerstoff, aber er bekam keine Luft. Er fragte sich, ob Joe ihn hassen würde für das, was er getan hatte.

    Simon , sagte Cranhams Geist. Alles wird gut.
    Church spürte, wie sich in ihm etwas löste. Mit einem Atemzug, der ihm gar nicht wie ein Atemzug vorkam, schien er anzuschwellen, und alle Anspannung fiel von ihm ab. Seine Angst verflog, nur eine tiefe Melancholie blieb.
    Kommen Sie, Simon , sagte Hawthorne. Nehmen Sie meine Hand.
    Der große Detektiv öffnete die Augen und streckte die Hände nach seinen Freunden aus. Im nächsten Moment war es ganz still im Studierzimmer. Selbst der schrumpelige, verwitterte Körper

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