Joe Golem und die versunkene Stadt
erwiderte Molly verwirrt. »Felix ist nicht mein Vater.«
»Nicht durch Abstammung, das weiß ich. Aber er ist der Vater in Ihrem Herzen, oder nicht? Zu meinem Bedauern haben Sie sich in seiner Abwesenheit Leuten wie Simon Church und seinem rüpelhaften Lakaien als Vaterersatz zugewandt.«
Zorn durchfuhr Molly, und ein Funke der Erkenntnis glühte in ihr auf. »Ich habe keineswegs …«
»Das ist ganz normal, Molly«, sagte Dr. Cocteau sanft. »Völlig verständlich. Aber es ist gut, dass Sie jetzt zu uns gestoßen sind, nicht nur für Felix und mich, auch für Sie. Sie haben schließlich genug Zeit unter Verrückten verbracht, meinen Sie nicht auch?«
Molly stand da, verängstigt und erschüttert, und versuchte, ihre Gedanken vor einem Mann zu verbergen, der sie offenbar mühelos durchschaute. Simon Church hatte trotz seiner wirren Behauptungen und der unheimlichen Mixtur aus Magie und Wissenschaft, die ihn am Leben erhielt, so selbstbewusst gewirkt, dass sie ihm ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatte.
Nein , dachte sie, mein ganzes Vertrauen hatte Joe.
Dies hier aber war Dr. Cocteau, ein Mann, der trotz seiner Umgebung kaum als der widernatürliche, wahnsinnige Bösewicht erschien, als den Church ihn dargestellt hatte.
»Bitte«, sagte Molly. »Wo ist Felix?«
Dr. Cocteau bedachte sie mit einem solch mitfühlenden Blick, dass sie einen Augenblick lang befürchtete, er würde ihr nun sagen, dass Felix tot sei. Doch er nickte nur bedauernd zu der Glassphäre.
»Er ist da drin.«
Molly starrte ihn an. Sie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Kopf wich. Voller Panik eilte sie zu der Sphäre und drückte ihr Gesicht dagegen, presste die Handflächen gegen das Glas und versuchte, durch das trübe Wasser zu blicken. Wie zuvor sah sie etwas, das sich darin bewegte, hin und her zuckend wie im Kampf oder beim Ertrinken. Wenn Cocteau es ernst meinte …
»Sie müssen ihn herauslassen!«, rief sie und warf einen Blick auf den weißhaarigen Mann, ehe sie wieder in das dunkle Wasser starrte. »Er ertrinkt!«
»Nein, tut er nicht«, widersprach Dr. Cocteau. »Im Gegenteil, er würde nicht überleben, wenn wir ihn aus dem Becken holten. Ich brauche Ihre Hilfe, Molly. Felix benötigt Ihre Hilfe. Deshalb habe ich Sie hierher bringen lassen.«
Seine nüchterne Stimme und die vollkommen sachliche Argumentation wirkten einen Augenblick lang auf sie; dann erinnerte sie sich an die Gas-Männer und wie sie Joe auf der Friedhofsinsel von Brooklyn Heights niedergeschossen hatten. Doch was, wenn Cocteau die Wahrheit sprach?
»Und was genau hätte ich zu tun?«, fragte sie und richtete einen misstrauischen Blick auf den beleibten, weißbärtigen alten Mann.
»Seien Sie einfach hier bei ihm«, antwortete Dr. Cocteau. »Beruhigen Sie ihn.«
Molly runzelte die Stirn. »Was macht er da drin?«
Ein freudiges Lächeln breitete sich über Cocteaus Gesicht aus, und er blickte bewundernd zu der Wassersphäre. »Felix erfüllt seine Bestimmung. Er wird der Sohn seines Vaters.«
Noch verwirrter als zuvor schüttelte Molly den Kopf. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie im Innern der Sphäre eine heftige Bewegung und drehte sich rechtzeitig um, dass sie im trüben Wasser ein Gesichterkennen konnte. Es war Felix’ Gesicht, aber nicht das Gesicht, das sie so gut gekannt hatte, sondern etwas vollkommen anderes, Fremdartiges, auf furchtbare Weise Verändertes.
Molly schrie vor Entsetzen und wich von der Scheibe zurück.
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Kapitel 17
I n Simon Churchs Wohnung brach alles zusammen. Ein Regal gab nach und schleuderte antike Bücher mit ausfaltbaren Karten von sagenhaften Orten und alten Imperien zu Boden. Eine Porzellanmaske vom venezianischen Karneval blieb an der Wand hängen, aber sie vergilbte unversehens; die Glasur bekam Risse, die Farben verblassten und blätterten ab.
Uhren blieben stehen. Als Letzte verstummte die Standuhr, die Church vor vielen Jahren aus England mitgebracht hatte. Sie war ein Erbstück seiner Eltern. Sein kleiner Sohn Nathaniel hatte diese Uhr geliebt. Manchmal hatte er sich darin versteckt und Ticktack-Laute von sich gegeben, bis sein Vater ihn fand. Der Junge war kränklich gewesen und mit sieben Jahren gestorben; sein Tod hatte einen solchen Abgrund finsterer, morbider Bedrückung hinterlassen, dass seine Mutter – Churchs einzige Ehefrau und einzige Liebe – dem Jungen bald gefolgt war.
In den letzten siebzig Jahren seines Lebens hatte Simon Church ihren Namen niemals ausgesprochen. Im Universum
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