Joe Golem und die versunkene Stadt
waren finstere Kräfte am Werk, die mit dem Namen eines toten geliebten Menschen entsetzliche Dinge bewirken konnten, und er wollte ihnen diese Macht nicht liefern. Doch Church träumte oft von ihr. Nur Hawthorne hatte gewusst, dass er überhaupt verheiratet gewesen war und einen Sohn gehabt hatte, einen Jungen, der zu einem großartigen Detektiv wie sein Vater hätte heranwachsen können, hätte er nur lange genug gelebt, um von Church unterwiesen zu werden.
In Churchs Wohnung welkten die Pflanzen und warfen die Blätter ab. Der Tabak in seinen Büchsen schimmelte. Die Chemikalien in seinem Labor zersetzten sich. Pergament vergilbte und kräuselte sich. Hätte jemand den Aufzug benutzt, hätte der Fahrstuhl zuerst noch funktioniert, doch die Zahnräder hätten sich festgefressen, zu qualmen angefangen und den Unglücklichen mitten im Schacht festgehalten. In dem Zimmer, in dem Molly ängstlich und verwirrt, aber dennoch in Wärme und Behaglichkeit aufgewacht war, fielen gerahmte Fotos aus der Zeit, ehe Lower Manhattan untergegangen war, von der Wand, und die Scheiben zersprangen.
Wenn am Morgen die Haushälterin eintraf, würde sie den Leichnam Simon Churchs auf dem Fußboden des Studierzimmers finden – dort, wo er zusammengebrochen war. Doch sie würde ihn nur deshalb erkennen, weil sie außer ihm niemanden kannte, der eigenartige Mechanismen in seinem Körper trug. Seine sterblichen Überreste wären vergilbt und gekräuselt wie das Pergament und würden zerfallen wie die Regale und Bilder. Die vielen Jahre, von Mr. Church so lange auf Abstand gehalten, hatten ihn schließlich eingeholt, und die Hand der Zeit hatte auch seine Habseligkeiten berührt.
Farbe blätterte ab. Tapeten schälten sich von den Wänden. Tinte vertrocknete im Fass. Bald schon würde es so aussehen, als wären nicht Stunden, sondern Jahrzehnte vergangen, seit zum letzten Mal jemand den Fuß in diese Räume gesetzt hatte.
Und doch brummten, rasselten und rumpelten in dem Kuppelraum im obersten Stock die Maschinen ohne Unterbrechung weiter. Dampf zischte aus Ventilen. Die Nadeln auf den Messgeräten zitterten gefährlich, während sie sich in die roten Gefahrenzonen bewegten. In diesem Raum hatte nur das Pendel seine ordnungsgemäße Bewegung eingestellt und schwang nicht mehr, hing aber in einem schrägen Winkel herab und zeigte auf einen bestimmten Punkt unweit jener Stelle an der Südspitze der Versunkenen Stadt, wo vor hundert Jahren das New Yorker Rathaus gestanden hatte. Das Pendel wies mit einer Starre auf diesen Punkt, als übte ein starker Magnet seinen Einfluss aus, doch hier war kein Magnetismus am Werk. Das Pendel erfüllte lediglich seinen Zweck – genau wie der Rest von Mr. Churchs Apparaturen, die das Okkulte aufspüren konnten.
Die Nadeln auf den Messgeräten schlugen immer weiter aus.
Joe schleppte sich über die U-Bahn-Gleise durch den Tunnel. Er schwankte mit der an- und abschwellenden Strömung. Im dunklen Wasser umschwärmten ihn Fische. Manchmal blieb er stehen und beobachtete sie, während seine Gedanken abschweiften. Er bewegte die Finger, öffnete und schloss die Hand; dann hielt er sie hoch, betrachtete sie und dachte an die abscheulichen, keckernden Hexen, die Kinder stahlen und die Ernte verdarben.
Ein gewöhnlicher Blaubarsch schoss auf Joes Brust zu und jagte gleich wieder davon, aber Joe zuckte heftig zusammen und erinnerte sich an die Kugeln.
Er runzelte die Stirn. Sie bildete Falten hinter der Maske aus toter Haut, die ihm noch ins Gesicht hing. Kugeln in der Brust, Schlamm im Mund, Regenwasser in den Augen. Er war erschossen worden, oder? Joe nickte bedächtig. Ja, war er. Und die Dreckskerle, die ihn erschossen hatten, waren mit dem Mädchen verschwunden. Hieß sie Molly? Ja, Molly.
Mit neuer Entschlossenheit ging Joe weiter. Fische nagten an dem toten Fleisch, das sich von seinem Steinkörper schälte, doch er achtete nicht darauf. Stattdessen dachte er über Flüsse nach und gelangte zu der Ansicht, dass alle Flüsse in Wirklichkeit ein einziger Fluss waren, Zeit und Schicksal eingeschlossen, und dass er froh war, die Strömung auf seiner Seite zu haben.
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Kapitel 18
M olly stieß sich so kräftig von dem Becken ab, dass sie rücklings auf einen ausgeblichenen Perserteppich fiel. Sie starrte zu der Glassphäre hoch, entdeckte aber nur einen dunklen Umriss darin, der sich bewegte. Doch das Gesicht, das sie gesehen hatte, war in ihr Bewusstsein eingebrannt, und sie wusste, dass
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