Joe von der Milchstraße
soeben aus einem Schlitz seines Schreibtisches gekommen war. »Offensichtlich waren Sie in dem Augenblick nicht voll zurechnungsfähig.«
»Ja«, sagte Joe, »ich war nicht voll zurechnungsfähig.« Er fühlte keinerlei Emotionen. Was er fühlte, war körperliches Elend, das sich noch verstärkte. Es hinderte ihn, irgendetwas zu denken oder zu fühlen.
»Wir werden jedoch Ihre übriggebliebenen Münzen beschlagnahmen. Zumindest für einige Zeit. Wir lassen Sie frei für eine Probezeit von einem Jahr. Während dieser Zeit haben Sie einmal in der Woche hier zu erscheinen, um uns einen Bericht, und zwar einen lückenlosen Bericht, über alle Ihre Aktivitäten zu geben.«
»Ohne Gerichtsverhandlung?« fragte Joe verwundert.
»Wollen Sie vor Gericht?« Der Beamte blickte ihn scharf an.
»Nein«, antwortete Joe und rieb sich die schmerzende Stirn. Offenbar ist das Material der ZB noch nicht bis zu ihnen gedrungen, dachte er. Aber schließlich werden sie es doch noch bekommen. Sie werden es miteinander in Verbindung bringen: daß ich dem Polizisten ein Trinkgeld gegeben habe und daß ich Briefe in meiner Toilette gefunden habe. Ich bin ein Versager. Erst macht mich das Unausgefülltsein fast verrückt, so daß ich in den letzten sieben Monaten zum Wrack werde, und nun, als ich endlich einmal die Initiative ergreife und meine Münzen zu Mr. Job bringen will, kann ich nicht einmal mehr das!
»Einen Augenblick«, sagte ein anderer Polizist, der soeben den Raum betreten hatte, »hier ist noch etwas über ihn von der ZB. Es ist gerade aus ihrer Computerzentrale zu uns gekommen.«
Joe sprang auf und rannte zur Tür der Polizeistation. Er rannte auf die Menschenmenge draußen zu, um sich in ihr zu begraben, um seiner Existenz als Individuum ein Ende zu bereiten.
Zwei Polizisten tauchten vor ihm auf und warfen sich ihm entgegen. Es kam ihm vor, als näherten sie sich ihm unnatürlich schnell. Es sah aus wie ein zu schnell laufender Film. Und dann waren sie auf einmal unter Wasser! Wie schlanke Silberfische starrten sie ihn an, während sie sich – großer Gott – mit rhythmischen Bewegungen durch die Korallen und den Seetang manövrierten. Er selbst fühlte nichts, kein Wasser. Aber die Polizeistation hatte sich in einen Wassertank verwandelt, die Möbel waren wie versunkene Wracks halb im Sand begraben. Die Polizisten huschten schwimmend an ihm vorüber. Es sah anmutig aus, wie sie mit gleitenden, glitzernden Bewegungen durch das Wasser schwebten. Aber sie konnten ihn nicht berühren, weil er selbst, obwohl mitten unter ihnen, nicht in dem Tank war. Er hörte keinen Laut. Er sah, wie sich ihre Münder bewegten, aber es erreichte ihn nur die Stille.
Mit wellenförmigen Bewegungen rauschte ein Tintenfisch vorüber. Er ist wie die Seele des Meeres, dachte Joe. Der Tintenfisch stieß plötzlich dunkle Wolken aus, so als wollte er alles auslöschen. Joe sah die Polizisten nicht mehr; die Dunkelheit breitete sich aus, bis sie sein ganzes Blickfeld ausfüllte. Sie wurde immer dichter, als wäre es immer noch nicht dunkel genug. »Aber ich kann trotzdem atmen«, sagte Joe. »Hallo!« rief er laut. Er hörte den Widerhall seiner eigenen Stimme. Ich bin nicht im Wasser wie die anderen, dachte er, ich bin eine Person für mich! Ich bin abgetrennt, eine separate Einheit! Aber warum nur?
Was geschieht, wenn ich versuche, mich zu bewegen, überlegte er. Er machte einen Schritt, dann noch einen, und stieß dann gegen eine Wand. Vielleicht versuche ich es in einer anderen Richtung, dachte er. Wieder stieß er gegen eine Wand. Panik überkam ihn. »Ich bin hier lebendig begraben!« stieß er hervor. »Oder bin ich schon tot? Vielleicht haben sie mich umgebracht, als ich versuchte, zur Tür zu laufen.« Er streckte verzweifelt die Arme in die Dunkelheit und versuchte, nach etwas zu greifen … auf einmal spürte er einen Gegenstand in seiner rechten Hand. Es war ein kleiner viereckiger Gegenstand mit zwei verschiedenen Knöpfen. Ein Transistorradio.
Er stellte es an.
»Hallo, Leute!« erklang eine lustige, blecherne Stimme in der Dunkelheit. »Hier ist wieder Crazy Cary Karns mit seinen sechs Telefonen und zwanzig fröhlichen Schalttafeln. Das reicht für euch alle, liebe Leute, die ihr irgendetwas auf dem Herzen habt und es euch von der Leber reden wollt. Die Nummer ist 394-950-911111. Also ruft an, liebe Leute, nur keine Hemmungen, erzählt, was euch gerade wichtig ist, egal, ob es traurig oder lustig, interessant oder langweilig
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