Joel 1 - Der Hund der unterwegs zu einem Stern war
aufgeholfen hat, als das Fliegende Pferd umgefallen war. Aber Simon Urväder erkennt ihn nicht. Er liegt im Schnee und blinzelt zum Himmel hinauf.
»Ich kann nicht mehr schlafen«, antwortet er. »Es gibt nichts Schlimmeres für einen einsamen Menschen, als in einem einsamen Bett in einem einsamen Haus zu liegen. Dann setz ich mich in meinen Laster und fahr los. Beim Fahren singe ich. Ich denke an all die Jahre, die ich im Krankenhaus gewesen bin, und dann sing ich mir all die schrecklichen Erinnerungen weg. Kummer kann man weg singen. Schreckliche Erinnerungen kann man wegpfeifen,so daß sie sich nie wieder zu einem her trauen…« Plötzlich richtet er sich im Schnee auf und sieht Joel an.
»Vielen Dank, daß du mir geholfen hast«, sagt er. »Aber jetzt mußt du gehen. Ich will meine Ruhe haben. Komm ein andermal wieder, dann kriegst du eine Suppe von mir. Wenn du die ißt, kannst du in die Zukunft sehen.« »Das kann man ja gar nicht«, sagt Joel.
»Das kann man wohl«, antwortet der alte Maurer. »Wenn du wiederkommst, beweis ich dir das.« Dann steht er auf und trottet zwischen den Tannen davon.
Joel geht weiter. Er probiert, ob es stimmt, was der alte Maurer gesagt hat. Daß man wegsingen kann, woran man nicht denken will.
»Winde weh'n, Schiffe geh'n, weit in ferne Land«, das kann er auswendig.
Sara mit dem roten Hut fällt ihm ein, und er singt laut und falsch. Aber nach dem ersten Vers steht sie immer noch vor ihm und streichelt ihm die Wange. Nach dem zweiten Vers, an den er sich nicht genau erinnert, verschwindet sie langsam. Nach dem dritten Vers ist sie ganz verschwunden. Aber sobald er aufhört zu singen, kommt sie wieder. Ich singe zu falsch, denkt er, dann hilft es nichts…
Er kehrt zurück zum Haus am Fluß. Es hat angefangen zuschneien, und er geht mit schleppenden Schritten.
Heute muß ich mit ihm reden, denkt er, mit Samuel. Wenn er mir nur sagt, wo Mama Jenny ist, dann kann er auf Saras Bettkante sitzen und seine Narbe zeigen, soviel er will…
Obwohl er lieber nicht daran denken will, weiß er genau, was es heißt, wenn Samuel nackt auf Saras Bettkante sitzt. Das könnte bedeuten, daß er auch unerwünschte Geschwister bekommen könnte.
Schwestern, denkt er, bloß Schwestern. Lauter kleine Saras mit roten Hüten…
Er stampft und trampelt, als er die Treppe hinaufgeht. Es hallt zwischen den Wänden wider, und er weiß, daß die alte Westman keinen Lärm mag. Aber wenn seine Schritte widerhallen, kann er wenigstens sicher sein, daß es ihn gibt…
Er macht Feuer im Herd und sieht, wie die Flammen zwischen den Holzscheiten herumhüpfen. Er steckt einen Finger hinein und probiert aus, wie lange er es aushält, ehe er sich verbrennt. Dann beschließt er, Samuels Zimmer zu durchsuchen. Irgendwo müssen die Fotos ja sein. Jetzt wird er sie finden.
In Samuels Zimmer gibt es ein Bett und einen Stuhl, einen Tisch mit dem Radio und einer Leuchte und ein Regal mit Büchern. Im Schrank hängen seine Kleider. Das ist alles. Joel sieht sich im Zimmer um und versucht sich vorzustellen, wo er selber Fotos verstecken würde. Aber er weiß, daß Erwachsene merkwürdigerweise anders denken als Kinder. Häufig denken sie sich viel schlechtere Verstecke aus.
Joel durchsucht die schlechten Verstecke. Unter dem Kopfkissen, zwischen Bücherregal und Tapete, in den Fugen vom Linoleumbelag. Dort sind sie nicht. Dann schüttelt er jedes einzelne Buch aus. Keine Fotos fallen heraus. Dann durchsucht er die Tischschublade, in der das Taschenmesser mit dem Griff aus Perlmutter zwischen einem Haufen Papiere und Samuels Seemannsbuch liegt. Auch dort sind keine Fotos.
Samuel hat also kein schlechtes Versteck gewählt. Jetzt muß Joel noch einmal nachdenken.
Gute Verstecke sind Verstecke, an die man nicht einfach so denkt. Stellen, die man nicht sieht, die man nicht mal bemerkt. Ein gutes Versteck kann unter einer Zeitung sein. Er hebt die Zeitung hoch, aber darunter ist nichts als Staub.
Ein anderes gutes Versteck kann unter einer gestickten Decke sein, die Samuel von der alten Westman bekommen hat.
Joel hebt die Decke hoch. Und dort liegen die Fotos. Aber nicht nur die Fotos, sondern auch ein Brief. Er nimmt die Fotos und den Brief und setzt sich damit in die Fensternische im Flur, von wo aus er die Straße überblicken kann und Samuel rechtzeitig bemerkt.
Er betrachtet die Fotos genau. Aber er findet keine besondere Ähnlichkeit mit sich und seiner Mama Jenny. Er holt Samuels Rasierspiegel aus der
Weitere Kostenlose Bücher