Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
hab solche Angst gekriegt, als ich hörte, was passiert ist«, sagte sie. »Ich hab Herzschmerzen gekriegt. Stell dir vor, du wärst gestorben, Joel, hättest mich einfach allein gelassen.«
Joel spürte einen Kloß im Hals. Er mußte sich auf die Lippen beißen, damit er nicht in Tränen ausbrach. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. An den Rucksack, den er an einen Ast draußen im Wald gehängt hatte. An den Sonntagnachmittag, als er, statt das GeronimoPuzzle fertig zu legen, hinausgegangen war in den Wald, um sich mit Absicht zu verlaufen.
Wie lange war das schon her! So unbegreiflich lange! Gertrud sah immer noch ernst aus. Joel schoß es hastig durch den Kopf, wie merkwürdig es war, daß ein Mensch, der ganz blau im Gesicht war, ernst sein konnte. Und besonders Gertrud. Die verrückte Gertrud! »Es ist wahrscheinlich ein Mirakel gewesen«, sagte Joel. »Was hätte es sonst sein sollen?«
»Gott macht Mirakel«, antwortete Gertrud. »Bei mir hat er es auch gemacht.«
Joel wußte, was sie meinte. Gertrud hatte einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das war gleich nach der mißglückten Operation gewesen, bei der sie ihre Nase verloren hatte. Sie dachte, sie könnte nicht ohne Nase leben. Sie war zu häßlich, um leben zu können. Da hatte sie sich ein paar alte Bügeleisen in die Taschen gesteckt und sich in das kalte Flußwasser gestürzt. Aber sie war nicht ertrunken. Sie war an einem Wurzelstrunk, der am Boden lag, hängengeblieben, und zwar so, daß ihr Kopf an der Wasseroberfläche blieb. Sie war auch nicht erfroren. Pferdehändler Under war auf der Suche nach einem Pferd, das von seiner Weide ausgebrochen war, am Fluß entlanggegangen. Er hatte sie gesehen und geglaubt, es sei das Pferd, das in den Fluß gefallen war. Er war losgelaufen, um ein Ruderboot zu holen, und hatte sie herausgezogen. Und so hatte sie überlebt.
All das wußte Joel von ihr selbst. Es war noch gar nicht lange her. Eines Abends hatten sie sich aus weißen Laken eine Schneehöhle im mittleren Zimmer gebaut und einander WAHRHEITEN erzählt. Joel hatte von Mama Jenny erzählt, die ihn und Papa Samuel eines Tages verlassen hatte. Gertrud hatte erzählt, wie sie sich in den Fluß gestürzt hatte.
Das ist gut, dachte Joel. Sie weiß, was ein Mirakel ist.
»Was macht man?« fragte er.
»Wie meinst du das ?«
»Wenn man ein Mirakel erlebt hat. Muß man sich nicht dafür bedanken?«
Gertrud lächelte.
»Man muß sich nicht bedanken«, sagte sie, »aber man kann dankbar sein.«
Mit der Antwort war Joel unzufrieden.
»Ich will nicht, daß sich das Mirakel wiederholt«, sagte er, »ich will nicht noch mal vom Ljusdalbus überfahren werden.«
Gertrud sah ihn nachdenklich an.
»Glaubst du an Gott? So wie ich?«
Joel zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich bin ich wie Samuel.«
»Wie ist er denn ?«
»Er ist eine verlorene Seele.«
Gertrud begann zu lachen. Sie lachte so sehr, daß ihr die blaue Farbe übers Gesicht auf die weiße Bluse lief.
»Wer hat das denn gesagt?« fragte sie. »Wer hat gesagt, daß dein Papa eine verlorene Seele ist.«
Wieder zuckte Joel mit den Schultern. Das machte er immer, wenn er nicht wußte, was er antworten sollte. »Frau Nederström hat uns von verlorenen Seelen erzählt«, murmelte er. Gertrud schüttelte den Kopf.
»So ist Gott nicht«, sagte sie. »Aber wenn du dich für das Mirakel bedanken willst, kannst du eine gute Tat tun.« Das war es! Natürlich! Eine gute Tat wollte er tun. Daß er nicht selbst darauf gekommen war! Darüber hatte er in Büchern gelesen. Menschen, die eine große Gefahr überlebt hatten, bedankten sich, indem sie eine gute Tat taten. Jetzt wußte er es. Er nickte Gertrud zu.
»Ich laß mir was einfallen«, sagte er. »Ich werde eine gute Tat tun.«
Plötzlich sah Gertrud traurig aus.
Das war eigentlich am anstrengendsten mit ihr. Sie wechselte so oft die Laune. Joel konnte auch sehr schnell böse oder traurig werden. Aber dann war vorher auch etwas passiert. Bei Gertrud war alles anders. Sie konnte dasitzen und lachen und mitten im Lachen anfangen zu weinen. Für Joel war es unbegreiflich, daß es Lachen und Weinen gleichzeitig in einer Kehle gab.
Außerdem verunsicherte es ihn immer, wenn Gertrud die Laune wechselte. Dann konnte man nicht mit ihr reden, und er überlegte, ob er etwas falsch gemacht hatte. Aber meistens ging es genausoschnell vorüber. Jetzt sah er sie heimlich an. Ein trauriges, blaues Gesicht.
Die blaue Gertrud. Die
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