Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
eine Uniform, während die anderen normale Arbeitskleidung anhatten.
Einer der Männer hatte den Kopf bewegt, als der Fotograf abdrückte. Deswegen war das Gesicht verschwommen. »Das bin ich«, sagte Samuel und zeigte auf den verschwommenen Mann. »Als der Fotograf knipste, ist mir eine Fliege in die Nase geflogen. Auf dem Bild ist also auch eine Fliege. Aber die ist nicht zu sehen. Ich hab das Foto gefunden, als ich nach einem anderen gesucht habe. So ist das manchmal. Man findet nicht, was man sucht, aber man findet etwas anderes. Ich dachte, das Foto schenk ich dir. Das Schiff hieß ›Pilgrimme‹ und kam von Bristol.« »Danke«, sagte Joel und legte das Bild vorsichtig auf die Wachstuchdecke.
Das war eine Kostbarkeit. Über dieses Foto konnte er eine Menge zusammenphantasieren.
Samuel setzte sich wieder auf die Küchenbank, gähnte und begann, eine Wollsocke zu stopfen. Joel deckte den Tisch ab, und plötzlich spürte er, daß er müde war. Heute abend hatte er keine Kraft mehr, über die gute Tat nachzudenken. Er wußte, daß er einschlafen würde, sobald er im Bett lag.
Er zog sich aus, putzte die Zähne und zog das Nachthemd an, das ihm bis zu den Füßen reichte. Nachdem er ins Bett gekrochen war und sich gemütlich zusammengerollt hatte, rief er. Samuel kam herein, die Wollsocke in der Hand, und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Das Bett knackte unter seinem Gewicht. »Denkst du oft an den Unfall?« fragte er.
»Nein«, antwortete Joel, »ich denke nicht an den Bus.« Aber ganz stimmte das nicht. Denn der Bus war die ganze Zeit da, hinter allen anderen Gedanken in seinem Kopf. Manchmal drängte er sich vor, und dann war er wie ein Raubtier, das sich auf ihn zu stürzen drohte.
Joel versuchte, den Gedanken wegzudenken. Aber das war schwer. Gedanken ließen sich nicht einfach so wegdenken. Und das galt besonders bei den unheimlichen Gedanken. Der allerschlimmste Gedanke von allen war, daß draußen im Wald ein Baum auf Samuel fallen könnte. Nichts war schlimmer. Manchmal, wenn Joel dieser Gedanke kam, überfiel ihn die Angst, daß er fast zitterte. Es war, als ob der Baum schon gefallen wäre. Und Joel konnte nichts dagegen tun. Er hatte gelernt, daß man vor den schrecklichen Gedanken, die man im Kopf hatte, nicht davonlaufen konnte.
Vielleicht würde der Bus so ein Gedanke werden? Der niemals verschwand?
Samuel streichelte ihm über die Wange und ging wieder in die Küche. Joel versuchte, an die gute Tat zu denken, die er tun wollte. Aber er war zu müde. Die Gedanken hüpften und schossen durcheinander, er kriegte sie nicht zu fassen.
Es war, als ob er versuchte, eine Spatzenschar einzufangen, die in einer Pfütze auf der Straße herumhüpfte.
Am nächsten Tag fiel ihm auch keine gute Tat ein. Obwohl er nachdachte, so sehr er konnte. Zweimal dachte er so sehr nach, daß er vergaß, Frau Nederström zuzuhören. Aber sie merkte nicht, daß er nicht aufgepaßt hatte. Oder ließ sie ihn vielleicht in Ruhe, weil er ein Mirakel erlebt hatte?
In den Pausen war es fast wie immer. Nur fast. Immer noch sahen ihn seine Klassenkameraden etwas merkwürdig an. Und Joel spürte, wie die unangenehme Feierlichkeit zurückkehrte.
Als die Schule aus war, beschloß er, Simon Urväder zu besuchen. Vielleicht konnte der ihm eine gute Tat vorschlagen? Simon, der auch der alte Maurer genannt wurde, wohnte in einem verfallenen Haus hinter dem Krankenhaus. Im Gegensatz zu Gertrud, die nur ein wenig seltsam war, war Simon wirklich nicht ganz normal. Ihn hatte man viele Jahre in einer Anstalt eingesperrt, weil er verrückt war. Dann war er gesund geworden und entlassen worden. Aber viele glaubten, er sei immer noch verrückt, und manche hatten Angst vor ihm. Joel aber hatte keine Angst.
Nicht seit jenem Tag, als Simon ihn in seinem alten Laster mitgenommen hatte zum See der Vier Winde… Joel bog von der Hauptstraße ab und folgte einem kleinen Pfad, der sich zwischen dichtem Tannendickicht dahinschlängelte. Man konnte sich leicht verlaufen, wenn man den Weg nicht genau kannte. Simon hatte ein Durcheinander von Wegen angelegt. Es war wie ein Labyrinth. Wenn man den richtigen Weg nicht kannte, kam man zur Hauptstraße zurück. Das Labyrinth hatte Simon angelegt, um seine Ruhe zu haben. Er wohnte in einer alten Schmiede, und es gab Leute im Ort, die waren der Meinung, er dürfe dort nicht mehr wohnen. Manchmal kamen schwarzgekleidete Damen mit flachen Hüten und ebenso schwarzgekleidete alte Männer, und die
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