Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Nasenlose Blaubertrud.
Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und dachte, daß er eigentlich nach Hause gehen müßte. Vorm Einschlafen könnte er sich vielleicht eine gute Tat ausdenken, die er schon morgen ausführen würde.
Aber er wollte nicht gehen, bevor Gertrud wieder froh aussah. Heute abend nicht.
Er versuchte, sich etwas auszudenken, was sie froh machen würde.
Sollte er ihr einen Tee kochen?
Nein, das würde wahrscheinlich nicht reichen. Sollte er ihr etwas Lustiges erzählen? Gertrud hörte gern zu, wenn er ihr von Sachen erzählte, die er erlebt hatte. Es machte nichts, wenn er sie nur erfunden hatte, Hauptsache, es war spannend. Aber jetzt fiel ihm nichts ein. Sein Kopf war leer.
Da fiel sein Blick auf die Schüssel, die voller blauer Farbe war. Er tauchte den Zeigefinger hinein und begann, seine Stirn zu bemalen. Das war schwer, weil er im Spiegel alles seitenverkehrt sah. Mit großer Mühe gelang es ihm, sich ein paar Wörter auf die Stirn zu schreiben. Gertrud sah ihn nicht an. Sie saß da und starrte zum Küchenfenster hinaus.
Schließlich war Joel fertig. Er sah, daß er ein Wort falsch geschrieben hatte. Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Es mußte auch so gehen.
Gertrud starrte zum Fenster hinaus. Joel konnte an ihrem Nacken sehen, daß sie immer noch traurig war. Auch ein Nacken kann traurig aussehen, nicht nur ein Gesicht.
»Gertrud«, sagte er vorsichtig, als ob er befürchtete, sie könnte allzuschnell wieder fröhlich werden. Sie hörte ihn nicht.
»Gertrud«, sagte er noch einmal, jetzt etwas lauter. Langsam drehte sie den Kopf und sah ihn an. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie entziffert hatte, was auf seiner Stirn stand.
»GERTRUD FROH«, hatte er geschrieben. Aber er hatte sich verschrieben.
»GERRUD FROH«, stand da.
»Es ist nicht ganz richtig«, sagte er. »Aber es ist schwer, rückwärts zu schreiben.«
Gertrud sah immer noch ernst aus. Hastig schoß es Joel durch den Kopf, daß er es nicht geschafft hatte. Er wollte die Worte eben mit der flachen Hand aus der Stirn wischen, als das düstere blaue Gesicht vor ihm aufleuchtete und die weißen Zähne aus all dem Blau schimmerten. »Ich hab bloß nachgedacht«, sagte sie. »Jetzt bin ich wieder froh.«
Ohne daß Joel etwas dagegen machen konnte, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Es kam von innen. Selbst wenn er die Zähne zusammengebissen hätte, er hätte gelächelt.
Manchmal kommt Freude von innen. Selbst zusammengebissene Zähne können ihr nicht widerstehen. »Ich muß jetzt wohl nach Hause«, sagte er.
Gertrud befeuchtete ein Handtuch und wischte ihm die blaue Farbe aus dem Gesicht.
Joel schloß die Augen und dachte an Mama Jennys Kleid, das tief in Papa Samuels Schrank hing.
Manchmal hatte Gertrud richtige Mamahände.
Dann ging er durch den Abend nach Hause. An dem Mirakel trug er jetzt nicht mehr so schwer. Jetzt wußte er, was er tun wollte. Er mußte sich nur noch eine gute Tat ausdenken, für deren Erfüllung er nicht allzu lange Zeit brauchte. Dann würde er den verdammten Bus vielleicht vergessen. Und Eklund, der Bären schießen konnte, aber nicht aufpaßte, wenn er den Bus chauffierte.
Joel stürmte über die Eisenbahnbrücke. Er fragte sich, warum Gertrud manchmal traurig wurde.
Aber eigentlich war das nicht verwunderlich. Wer würde nicht traurig sein, wenn er keine Nase hätte?
Vielleicht war Gertrud auch traurig, weil sie nicht verheiratet war und keine Kinder hatte?
Joel steckte die Hände in die Taschen und trabte nach Hause.
An Gertrud mit ihrem blauen Gesicht konnte er morgen denken. Jetzt mußte ihm eine gute Tat einfallen, die er ausführen würde.
Und darüber nachdenken, was er antworten sollte, falls Samuel fragte, was er und Eva-Lisa den ganzen Abend gemacht hatten…
4
Als die Schule aus war, ging Joel zu Simon Urväder. Es regnete, und er war unzufrieden, weil ihm immer noch keine gute Tat eingefallen war. Warum war das so schwer? Am Morgen, als Papa Samuel ihn an der Schulter geschüttelt und gesagt hatte, er müsse sich mit dem Aufstehen beeilen, wenn er nicht zu spät zur Schule kommen wollte, hatte er mit dem Nachdenken über die gute Tat angefangen. Gestern abend war nicht mehr viel Zeit zum Denken gewesen. Als er von Gertrud nach Hause kam, hatte Papa Samuel eine seiner alten Seekarten auf dem Küchentisch ausgebreitet. Mit seinem dicken Zeigefinger war er den Wegen gefolgt, die er früher übers Meer gefahren war. Joel hatte sich gefreut. Wenn Papa
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