Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
man traurig war.
Es war einige Male so gewesen, daß Gertrud in der Küche gesessen und geweint hatte, wenn Joel sie besuchen wollte. Dann war Joel umgekehrt und wieder nach Hause gegangen. Aber jetzt war es still in der Küche.
Joel lauschte, das Ohr gegen die kalte Tür gepreßt. Dann zog er an einer Schnur, die an der Wand hing. Sofort begann es hinter der Tür zu läuten.
Das gefiel Joel am besten an Gertrud. In ihrem Haus war nichts wie bei anderen Leuten. Sie hatte nicht mal eine normale Klingel, auf die man drücken konnte. Sie hatte eine Schnur, an der man ziehen mußte. Und dann begann hinter der Tür ein Glockenspiel zu spielen.
Das hatte Gertrud selbst erfunden. Sie hatte einen alten Wecker zerlegt und die Teile mit ein paar Schellen zusammengebaut, die sie sich vom Pferdehändler Under erbettelt hatte. Und das Ganze funktionierte. Der Rest des Hauses war genauso.
Einmal hatte Joel sie besucht, und sie hatten am Küchentisch ein langweiliges Puzzle gelegt. Als sie fast fertig waren, war sie plötzlich vom Stuhl aufgesprungen und hatte alle Puzzleteile auf den Fußboden gefegt. Nur einige wenige Teile hatten noch nicht ihren Platz gefunden. »Jetzt weiß ich es!« hatte Gertrud gerufen.
»Wollen wir das Puzzle nicht fertig legen?« hatte Joel gefragt.
Im selben Augenblick hatte er eingesehen, daß es eine dumme Frage war. Alle Teile lagen ja auf dem Linoleumfußboden. Wenn sie das Puzzle fertig legen wollten, mußten sie wieder von vorn anfangen.
Gertrud hatte sich die rote Clownsnase über das Loch unter den Augen gesetzt. Sonst trug sie dort, wo einmal die Nase gewesen war, ein Taschentuch. Aber wenn sie denken wollte oder guter Laune war, setzte sie sich die rote Nase auf. Die Denkernase, nannte sie sie.
»Pfeif aufs Puzzle!« rief Gertrud. »Jetzt machen wir was anderes.«
»Was denn?« fragte Joel.
Gertrud antwortete nicht. Sie sah nur geheimnisvoll aus.
Dann steckte sie den Kopf in den Kleiderschrank und warf einen Haufen Kleider auf den Fußboden.
»Wir machen alles anders«, sagte sie.
Joel verstand nicht, was sie meinte.
»Was anders machen ?« fragte er.
»Alles, was normal ist«, rief Gertrud, »alles, was gewöhnlich und langweilig ist.«
Joel verstand immer noch nicht, was sie meinte. Deswegen wußte er auch nicht, ob er verlegen sein oder ob er es aufregend finden würde.
»Jetzt verkleiden wir uns«, sagte Gertrud und begann, in dem Haufen Kleider herumzuwühlen. »Wir fangen damit an, daß wir uns verändern.«
Da konnte Joel mitmachen.
Ihm machte es Spaß, sich zu verkleiden. Oft, wenn er aus der Schule nach Hause kam und darauf wartete, daß die Kartoffeln kochten, verkleidete er sich mit Papa Samuels Sachen. Vor ein paar Jahren war es nur ein Spiel gewesen. Aber im letzten Jahr hatte Joel Papa Samuels Sachen angezogen, um auszuprobieren, wie es wäre, erwachsen zu sein. Und er hatte entdeckt, daß Kleider für Erwachsene nicht nur größer sind als Kinderkleider. Es gab da noch mehr Unterschiede. Kleider für Erwachsene hatten besondere Taschen, die Kinder nicht brauchten. Taschen, in die man seine Uhr stecken konnte. Oder eine kleine Tasche in einer anderen Tasche, in der man Kleingeld verwahren konnte.
Joel war aufgefallen, daß er auch anders dachte, wenn er Papa Samuels Sachen trug. Er sah sich im Spiegel und sprach mit seinem Spiegelbild, als ob er sein eigener Papa wäre. Er fragte das Spiegelbild, wie es in der Schule gewesen war und ob er auch nicht vergessen hatte, Brot beim Bäcker zu kaufen. Das Spiegelbild antwortete nicht. Aber Joel zog eine unsichtbare Uhr aus der Tasche und seufzte und ermahnte das Spiegelbild, es wenigstens am nächsten Tag nicht zu vergessen.
Tief drinnen in Papa Samuels Kleiderschrank hatte er einmal ein Kleid gefunden. Es hing in einem Beutel, der nach Mottenkugeln roch. Joel dachte, daß es wahrscheinlich ein Kleid war, das seine Mama Jenny vergessen hatte, als sie wegging. Wem sollte es sonst gehören? Sara aus der Bierstube war viel zu dick für dieses Kleid. Außerdem blieb sie nie über Nacht, wenn sie zu Besuch kam. Das hatte Joel verboten.
Er hatte nichts gesagt. Aber er hatte es trotzdem verboten.
Er hatte so sehr daran gedacht, daß Sara wahrscheinlich seine Gedanken gelesen hatte.
Also mußte es Mama Jennys Kleid sein.
Und war es ganz sicher, daß sie es vergessen hatte, als sie ihren Koffer packte und wegging?
Hatte sie es vielleicht mit Absicht zurückgelassen? Damit es da war, wenn sie eines Tages zurückkam? Joel
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