Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Samuel eine Seekarte hervorholte, war er guter Laune. Dann würde er aus der Zeit erzählen, als er Seemann gewesen war. Zusammen würden sie sich über die Seekarten beugen und die Reisen aufs neue unternehmen.
Außerdem fragte Samuel nicht danach, was er den ganzen Abend bei Eva-Lisa gemacht hatte. Das war auch gut. »Das Schiff legt in einer Minute ab«, sagte Samuel, als Joel in die Küche kam.
Joel mußte sich schnell Stiefel und Jacke ausziehen. Dann setzte er sich auf den Küchenstuhl, Samuel gegenüber, der auf der Küchenbank saß.
»Fast hättest du dein Schiff verpaßt«, sagte Samuel mit gespielter Strenge. Das Spiel hatte begonnen. Das ernste Spiel.
»Bist du Joel Gustafson?« fragte Samuel. »Der neue Küchenjunge?«
»Ja«, antwortete Joel.
»Ja, Käptn, heißt das«, sagte Samuel.
»Ja, Käptn!«
Dann legten sie ab. Die Trossen wurden losgemacht, die Schraube begann zu arbeiten, Matrosen und Jungmänner liefen an Deck hin und her, die Steuermänner gaben Befehle weiter, und Käptn Gustafson stand auf der Brücke und überwachte das Ganze.
Samuel war nie etwas anderes als Matrose gewesen. Aber wenn er zusammen mit Joel fuhr, dann war er der Kapitän.
»Wie heißt das Schiff?« fragte Joel.
Samuel blinzelte ihn über die Brille an.
»Heute fahren wir mit der ›Celestine‹«, sagte er. »Das schönste Schiff der Welt. Aber ich hab einen Motor eingebaut, damit es schneller geht.«
Joel schaute zu dem Schiff, das in seiner Glasvitrine neben dem Herdregal stand. Dabei schien ihm, als ob es in den Wänden der Küche knarrte. Als ob das Haus ein Schiff wäre, das sich langsam im Hafenbecken drehte und den Bug dem offenen Meer zuwandte. Samuel legte den Zeigefinger auf die Seekarte.
»Scarborough Fair«, sagte er. »Jetzt verlassen wir das Kaff.«
»Was haben wir geladen?« fragte Joel.
»Wilde Pferde«, antwortete Samuel. »Und Eisenerz. Und ein paar geheimnisvolle Kisten. Nur der Kapitän weiß, was drin ist.«
Es würde eine gute Reise werden. Das wußte Joel jetzt. Geheimnisvolle Kisten waren das Spannendste, was ein Schiff laden konnte. Erst wenn man über das Meer gesegelt war und wieder einen Hafen erreicht hatte, erfuhr man, was die Kisten enthielten.
»Wir gehen nördlich an den Orkneyinseln vorbei«, sagte Samuel, mit dem Zeigefinger auf der Seekarte. »Wir müssen darauf achten, daß wir den Eisbergen nicht zu nah kommen. Wenn es schweren Weststurm gibt, können wir bis nach Island getrieben werden. Aber jetzt braucht die Besatzung einen Teller Suppe, um sich aufzuwärmen.« Joel sah, daß ein Topf auf dem Herd stand. Er deckte den Tisch mit zwei Tellern und füllte Suppe auf.
Samuel hatte eine Suppe aus Knochen gekocht. »Schildkrötensuppe«, sagte Samuel.
Dann aßen sie, und das Haus schlingerte wie ein Schiff im Sturm. Der schwere Sturm trieb sie an Islands Küste, die sich mit ihren hohen Felsen hinter den gischtenden Wogen abzeichnete. Ein Mann ging über Bord, aber sie schafften es, ihn lebendig zurückzuholen. Schweigende mächtige Eisberge trieben vorbei, die wilden Pferde wieherten und schlugen mit den Hufen aus in ihren Boxen unter Deck. Und Samuel erzählte. Vom Brüllen des Sturmes und der Stille danach. Vom Meeresleuchten, das nachts flammte. Von Schiffen, denen sie begegneten, und riesigen Walen, die in weiter Ferne Wasser spritzten. Schließlich, am frühen Morgen, sahen sie die Küste von Neufundland und nahmen Kurs auf Philadelphia. Ein Lotsenschiff kam ihnen entgegen, und bald hatten sie im Hafen festgemacht.
Samuel lehnte sich zurück und reckte seinen Rücken. »Eine gute Reise«, sagte er. »Aber für den Jungmann, der über Bord gefallen ist, hätte es schlecht ausgehen können.«
»Es war ein Wunder, daß er gerettet wurde«, sagte Joel. »Er hat Glück gehabt«, antwortete Samuel. »Glück und nichts anderes.«
»Und die geheimnisvollen Kisten?« fragte Joel vorsichtig.
»Die hätte ich fast vergessen«, sagte Samuel. Er stand auf und ging in sein Zimmer.
Joel blieb gespannt auf dem Stuhl sitzen. Geheimnisvolle Kisten bedeuteten immer, daß er etwas von Samuel bekommen würde.
Samuel kam wieder in die Küche.
»Die Kisten, die wir befördert haben, enthielten alte Erinnerungen«, sagte er. Dann reichte er Joel ein verblaßtes Foto.
Das Bild war schmutzig, und eine Ecke war abgerissen. Aber Joel konnte ein Schiff in einem Hafen erkennen. Auf der Gangway standen ein paar Mann der Besatzung und guckten gerade in die Kamera. Einer von ihnen trug
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