Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt
Obergeschoss.«
Er begleitete Joel hinaus. »Hoffentlich hast du mich nicht angelogen.«
Joel hatte ein schlechtes Gewissen.
»Nein«, sagte er. »Ich hab Sie nicht angelogen. Das ist mir nur einmal passiert, als ich ins Hotel
Der Rabe
wollte.« Dann war er auf dem Hof. Er hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Warum musste er den Namen des Hotels nennen, in dem er und Samuel wohnten?
Aber jetzt war nichts mehr zu ändern. Er blieb an der Pforte mit seinem eingebildeten Schlüssel in der Tasche stehen. Der Schlüssel zu einem Haus, in dem seine Mama nicht wohnte. Aber in dem vermutlich zwei Töchter von einer Frau, die Jenny Rydén hieß, in ihren Betten schliefen. Er fühlte sich erleichtert. Aber auch missmutig. Erleichtert darüber, dass er entwischt war. Missmutig darüber, dass alles gar nicht so war, wie er geglaubt hatte. Oder wie er gehofft hatte.
Er machte sich auf den Weg zurück ins Hotel. Spürte, wie müde er war. Die Uhr an einem Kirchturm zeigte, dass es schon nach eins war. Die Straßen waren leer. Er warf einen Blick zum Himmel hinauf. Ein Regentropfen traf sein Gesicht. Bald kam der Regen. Joel ging schneller. Dann fing es an zu gießen. So schnell konnte er gar nicht laufen. Darum ging er wieder langsamer. Es war ja sowieso alles egal. Wenn er ins Hotel kam, würde er total durchnässt sein. Aber erst einmal verlief er sich. Plötzlich wusste er überhaupt nicht mehr, wo er war. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er den richtigen Weg wieder fand. Da war er so nass, dass es in seinen Schuhen quatschte.
Es hörte in genau dem Augenblick auf zu regnen, als er das Hotel erreichte. Vorsichtig schob er die Tür auf. Die Frau hinterm Tresen schlief immer noch. Er ging die Treppe hinauf. Vor der Tür blieb er stehen und lauschte. Alles war still. Vorsichtig öffnete er die Tür.
Aber es war nicht, wie er geglaubt hatte. Samuel schlief nicht. Er saß auf der Bettkante und hielt sich den Bauch. Sein Gesicht war weiß. Und er fragte nicht einmal, wo Joel gewesen war.
»Ich habe Magenschmerzen«, sagte er. »Ich glaub, ich sterbe.«
Nicht mehr.
Ich habe Magenschmerzen. Ich glaub, ich sterbe.
7
Später würde Joel sich an die Nacht erinnern als an den Moment, in dem er wirklich erwachsen wurde. Als er vorsichtig die Tür zu dem Hotelzimmer öffnete, war es, als ob er eigentlich die Tür zu seiner Zukunft öffnete. Die Kindheit ließ er im Korridor zurück. Das würde er nie vergessen. Niemals.
Samuel, der auf der Bettkante saß und sich die Hand auf den Bauch presste.
Seine aufgeknöpfte Schlafanzugjacke. Sein bleiches Gesicht.
Und was er sagte.
Ich habe Magenschmerzen. Ich glaub, ich sterbe.
Es dauerte einige Sekunden, ehe Joel es begriff. Noch bevor er sich an den Gedanken gewöhnen konnte, dass nichts war, wie er geglaubt hatte. Ein dunkles Zimmer und Papa Samuel schnarchend in seinem Bett.
Stattdessen saß er auf der Bettkante und hatte Schmerzen. Er hatte solche Schmerzen, dass es auch Joel wehtat. Im nächsten Augenblick bekam er Angst.
Was er empfunden hatte, als er mit Jenny Rydéns Handtasche ertappt wurde, war nichts gegen diese Angst. Jetzt hatte er wirklich Angst. Sein Herz begann zu hämmern, hart wie eine Faust gegen eine Tür.
»Was ist?«, fragte er und hörte selbst, wie seine Stimme zitterte.
Samuel schüttelte den Kopf. Er hatte wirklich Schmerzen. Joel konnte förmlich sehen, wie sie aus Samuels Augen krochen, aus seiner Nase, aus den zotteligen Haaren, aus dem Schlafanzug.
»Ich bin aufgewacht«, fuhr Samuel fort. »Ich hab geträumt, ich habe Bauchschmerzen. Aber als ich aufwachte, war es kein Traum.«
Joel setzte sich neben ihn. Er hatte angefangen zu frieren. Ob er fror, weil seine Sachen durchnässt waren oder wegen Samuel, das wusste er nicht. Außerdem war es egal. Nur eins war wichtig, dass Samuel Schmerzen hatte. Er saß da und wiegte sich vor und zurück. Die Schmerzen kamen und gingen.
»Vielleicht solltest du zur Toilette gehen«, sagte Joel. Samuel schüttelte wieder den Kopf. Joel sah, dass ihm vor Schmerzen der Schweiß ausbrach.
»Es geht vorbei«, sagte er. »Aber es tut furchtbar weh.« Dann saßen sie still da. Der Schmerz wanderte hin und her zwischen ihnen. Joel versuchte zu denken. Was konnte er tun? Was hatte Samuel getan, wenn er selbst Bauchschmerzen gehabt hatte? Ihm etwas zu trinken gegeben. Oder ihm gesagt, er sollte versuchen sich zu übergeben. »Vielleicht müsstest du dich übergeben«, sagte Joel. Zum dritten Mal schüttelte Samuel den
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