JörgIsring-UnterMörd
Krauss
schoss ihm durch das Futter des Mantels zwei Kugeln in die Brust. Das Geräusch
war nicht lauter als das Entkorken einer Weinflasche. Die Muskeln des Wächters
erschlafften. Krauss drückte ihn weiter an die Wand. Einen Moment lang würde er
ihn so halten können. So lange sie standen, erregten sie wenig Aufmerksamkeit.
Er hoffte, dass der zweite Wächter nicht lange wegbleiben würde. Die Tür hatte
keine Klinke, nur ein Schloss. Man musste sie mit dem Schlüssel aufziehen oder
von innen öffnen. Jede Minute kostete ihn Kraft. Aber die Tür schwang schneller
auf als gedacht. Der zweite Mann trat heraus, direkt vor Krauss, der die Waffe
schon beim ersten Knarzen der Angeln aus der Tasche gezogen hatte. Krauss
schoss ihm in die Stirn. Der Mann knallte gegen die Tür, rutschte an ihr
herunter und hielt sie mit seinem Körper auf. Krauss schleppte den ersten
Wächter zur offenen Tür und ließ ihn hineinfallen. Danach zog er den zweiten
Mann in den Eingang.
Krauss' letzter prüfender Blick galt dem Hausdurchgang.
Er hatte voll auf Risiko gespielt. Aber seine Erfahrung sagte ihm, dass die
wenigsten Menschen bemerkten, was um sie herum geschah. Jeder war nur auf sich
fixiert. Krauss schloss die Tür hinter sich. Sein Herz klopfte ihm bis zum
Hals. Nach mehr als sieben Jahren war er wieder in »Auerbachs Keller«. Doch
niemand zündete ihm eine Willkommenskerze an.
Der verwinkelte Bau hatte fünf Zimmer. Einen Aufenthaltsraum für das
Personal, der als Einziger zwei schmale Fenster auf Straßenniveau besaß, einen
kleinen Raum für Vorräte und Material, zwei Arrestzellen und einen großen,
akustisch gedämpften Verhörraum. Wer dort um sein Leben schrie, blieb
unerhört. Krauss stieg die steinerne Treppe hinab, die Waffe im Anschlag.
Daraus, dass Edgar zwei Wachen abgestellt hatte, schloss er, dass die »Söhne
Odins« gerade jemanden bearbeiteten. Krauss rechnete mit mindestens drei
weiteren Männern. Am Fuß der Treppe erreichte er einen Gang, der rechts zu den
Zellen und dem Verhörraum und links zum Aufenthaltsraum führte. Krauss wollte
zuerst seinen Rücken decken und ging links herum. Ohne Hast öffnete er die Tür
zum Aufenthaltsraum und spazierte hinein.
An einem
schmucklosen Tisch, um den ein paar Stühle herumstanden, saß ein Mann und
blätterte in einem Magazin. Er sah gelangweilt auf. Krauss hielt die Waffe auf
sein Gesicht gerichtet. Der Mann, älter als die beiden Wächter, aber Krauss
ebenfalls unbekannt, hörte auf zu blättern. Er machte einen kräftigen Eindruck.
Seine Augenbrauen waren vorne zusammengewachsen, die Haare von einem
schmutzigen Blond. Seine Nase hatte in ihrem Leben einige Schläge eingesteckt.
»Was ...?«
Krauss' Stimme war emotionslos. »Aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand.«
Der Mann zögerte, versuchte die Überraschung zu verdauen. »Sofort!«
Widerwillig schob der Angesprochene den Stuhl nach hinten und erhob sich.
Betont langsam ging er zur Wand. »Das wirst du noch bereuen, Freundchen.«
Krauss blieb frostig. »Kein Wort mehr, klar. Hände hinter den Kopf.«
Der Kerl
gehorchte, bewegte seine Glieder aber wie in Zeitlupe. Krauss stellte sich
hinter ihn und drückte ihm die Waffe in den Nacken, so dass sein Gegner die
Kühle des Metalls spürte.
»Du hörst mir jetzt genau zu. Wenn du das Tageslicht wieder sehen möchtest,
beantworte meine Fragen: Ich verstehe keinen Spaß. Wie viele Männer sind hier
unten?«
»Zu viele für dich, du Stinktier.«
Krauss spannte den Hahn.
»Schon gut. Zwei Mann, beide im Verhörraum.«
»Wer wird verhört?«
»Kaltenbrunner, ein Geschäftsmann, Trotzkist, steht im Verdacht, große
Mengen Geldes außer Landes geschmuggelt zu haben. Wir fühlen ihm auf den Zahn.
Guck es dir ruhig an! Dann weißt du, was dich erwartet.« Der Kerl gluckste.
»Wer verhört ihn?«
»Was?«
»Namen.«
Krauss verstärkte den Druck der Waffe. »Grasshoff und
Wiesmann.« »Werner Grasshoff?«
»Wer bist du?«,
fragte der Mann. Seine Stimme klang plötzlich belegt.
»Ich habe dir eine Frage gestellt«, antwortete Krauss.
Der Nazi zögerte. »Werner, ja, Werner.« Er atmete laut aus. »Du bist
Richard, oder?«
Krauss kannte
Grasshoff sehr gut. Ein intellektueller Typ mit ausgeprägten sadistischen
Neigungen. Er wurde gerne herangezogen, um Geheimnisse herauszupressen, war
aber leicht hypochondrisch veranlagt. Von ihm könnte er das erfahren, was er
wissen wollte. Klaus Wiesmann dagegen war erst kurz bevor Krauss die »Söhne
Odins« verlassen
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