JörgIsring-UnterMörd
seines im sechsten Stock gelegenen Zimmers erkannte er am
Horizont die Spree. Krauss ließ das Panorama einige Minuten auf sich wirken. Da
war er nun doch zurückgekehrt. Zurück in ein anderes Leben. In eine Vergangenheit,
die er eigentlich abgeschlossen wähnte. Eine Mischung aus Scham und Schmerz
schnürte ihm die Kehle zu. Berlin war ihm immer noch vertraut, dort hatte er
mit seinen Kameraden über Wohl und Wehe, Leben und Tod entschieden. Damals
hatten die Menschen ihn gefürchtet, heute war es umgekehrt. Die Stadt
revanchierte sich für seine Untaten, war sein Feind, jeder Schritt nunmehr ein
Risiko. Hinter jeder Tür lauerte Verrat, hinter jedem Fenster ein Spitzel.
Dass er hier lange überleben würde, schien ihm nicht nur fraglich, es war ausgeschlossen.
Aber für das, was er vorhatte, brauchte er wenig Zeit.
Krauss riss sich vom Fenster los, ging zum Bett und öffnete seinen Koffer.
Er nahm zwei frische Hemden heraus, hängte sie auf einen Bügel. Ein leicht
zerknittertes Sakko warf er auf das Bett und faltete Unterwäsche auseinander.
Zwischen den Kleidern lagen gut verpackt der 45er Colt und der 38er Revolver.
Die Walther trug er im Schulterhalfter. Doyle hatte dafür gesorgt, dass er am
Flughafen nicht kontrolliert wurde. Nach und nach füllte sich das Bett mit
anderen Utensilien, einer Stahlrute, einem Totschläger und einem Schlagring.
Ein jämmerliches Arsenal, dachte Krauss. Edgar würde ihn auslachen. Doch mehr
war nicht drin gewesen. Außerdem reichte eine Kugel aus, um das Leben seines
Bruders zu beenden, beruhigte er sich.
Achtlos ließ Krauss die Waffen auf dem Bett liegen, zog sich aus und ging
ins Bad. Nach dem Flug brauchte er eine heiße Dusche, um den Kopf
freizubekommen. Unter dem fast kochenden Wasserstrahl rekapitulierte er die
vergangenen Tage. Doyle hatte es plötzlich sehr eilig gehabt und ihm einen
Platz an Bord der letzten regulären Maschine nach Berlin besorgt.
Offensichtlich war Hitler in die Offensive gegangen, hatte die Telefonverbindungen
nach England gekappt. Die Deutschen drückten aufs Tempo, und beim MI5 sah man
sich genötigt mitzuziehen. Doyle hatte ihn ein weiteres Mal auf seinen Auftrag
eingeschworen, war am Ende aber zu sehr ins Pathos abgeglitten. Krauss konnte
derartige Grundsatzreden nicht mehr ertragen, mochte weder seinem Vaterland
noch dem, das ihn aufgenommen hatte, einen Dienst erweisen. Was ihn wirklich
bewegte, saß viel tiefer, war eine Frage des Blutes, betraf nur ihn und seinen
Bruder. Aber da er das Doyle nicht auf die Nase binden wollte, hatte er den
Mund gehalten und sich dessen Litanei angehört. Über das, was Hitlers Tod
auslösen würde. Hitlers Tod, den er herbeiführen sollte. Wie einen
erfolgreichen Geschäftsabschluss. Er war ein Mitarbeiter im Außendienst, und er
sollte nicht mit leeren Händen zurückkommen. Nicht mehr, nicht weniger.
Sicher würde Krauss Hitler töten, sollte er die Gelegenheit dazu bekommen.
Aber er würde sie nicht suchen. Sie musste sich ergeben - und das war mehr als
unwahrscheinlich. Er verfolgte ein anderes Ziel: alte Rechnungen zu begleichen,
um den Jungen zu schützen. Und um sein eigenes elendes Dasein zu einem sinnvollen
Ende zu führen.
Doyle hatte ihm
einen Tipp gegeben, wie er vielleicht über Umwege an Hitler herankäme. Der Mann
hieß Birger Dahlerus, war schwedischer Großindustrieller und in halboffiziellem
diplomatischen Auftrag mit derselben Maschine nach Berlin unterwegs. Krauss
hatte ihn anhand von Fotos, die Doyle ihm gezeigt hatte, erkannt. Dahlerus,
hohe Stirn, graue Schläfen, Brille vor übernächtigten Augen, wirkte völlig in
sich versunken, wie jemand, dessen Aufmerksamkeit von anderen Dingen
beansprucht wurde. Über die Motive des Schweden hatte Doyle ihn weitestgehend
im Dunkeln gelassen. Anscheinend war der Mann auf einer privaten Mission,
getrieben von welchen Dämonen auch immer. Grundsätzlich machte ihn das Krauss
sympathisch. Dahlerus befand sich auf einer Art Kreuzzug, ähnlich wie er
selbst. Irgendwie bezweckten sie sogar dasselbe: Frieden. Nur dass Krauss
inneren Frieden suchte. Der Unterschied war aus seiner Sicht marginal. Was den
Schweden für Doyle und damit für ihn interessant machte, war dessen enger
Kontakt zu Göring. Offensichtlich waren Dahlerus und der Feldmarschall
befreundet, und dieser Beziehung verdankte es der Schwede, dass er auf hoher
Ebene diplomatisch wirken durfte. Doyle war der Meinung, dass Krauss, wenn er
sich an Dahlerus hängen würde, irgendwann auf
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