JörgIsring-UnterMörd
schaute an sich herunter, tastete sich ab. Keine Kugel
hatte ihn getroffen, Lorzer hatte ihm nichts gebrochen. Allmählich
funktionierten seine Sinne wieder, und er nahm einen penetranten Geruch wahr.
Er fasste sich ins Gesicht und betrachtete angeekelt seine Finger, an denen eine
blutige Masse klebte. Lorzers Blut, vermischt mit Hirn, Haut und Haaren. Er
ging zum Tisch, zog das weiße Tuch unter den Folterinstrumenten weg und
wischte sich angewidert das Gesicht ab. Danach begutachtete er Grasshoff.
Nichts mehr zu machen. Mindestens eine Kugel hatte ihn in die Brust getroffen.
Wieder einmal würde er keine Auskunft bekommen. Wieder einmal hatte er es
vermasselt. Glück und Pech lagen bei ihm stets nah beieinander.
Er sammelte die 45er ein, die vor Grasshoff auf dem Boden lag. Wie lange er
schon in »Auerbachs Keller« war, konnte er nicht sagen. Aber es war Zeit,
diesen Ort zu verlassen.
Krauss steckte die Waffen ein, warf noch einen kurzen Blick auf das Chaos
und wollte gehen. Als er schon in der Tür war, hielt ihn ein Stöhnen zurück.
Die Laute kamen von dem an den Stuhl gefesselten Mann am Boden. Krauss hatte
ihn völlig vergessen. Es war keiner seiner Feinde. Nicht mehr. Trotzdem ging er
nur widerwillig zurück, und er hasste sich dafür. Der Mann hatte ein Auge halb
geöffnet. Das andere war komplett zugeschwollen. Krauss erinnerte sich, dass
Lorzer den Namen Kaltenbrunner hatte fallen lassen. Ein Trotzkist. Der Mann
versuchte zu sprechen, aber sein Mund war eine blutige, breiige Masse. Sein
nackter Körper war mit Wunden übersät.
Krauss wollte den Blick erst abwenden, dann zwang er sich jedoch
hinzusehen. Auch er hatte es einmal zugelassen, dass unschuldigen Menschen
Ähnliches angetan wurde, und er schämte sich so dafür, dass ihm schlecht wurde.
Niemand, der einem anderen Menschen so etwas zufügte, hatte ein Recht darauf,
weiterzuleben. Einschließlich sich selbst. Kaltenbrunner bewegte seine
angeschnallte Hand. Krauss deutete es als Winken. Er beugte sich herunter,
neigte den Kopf an die Lippen des Geschundenen.
»Helfen Sie mir«, flüsterte Kaltenbrunner.
Krauss stemmte
den Stuhl samt Mann auf die Beine. Kaltenbrunner atmete schwer. Krauss löste
erst die Lederriemen an den Füßen, danach öffnete er die Schlaufen an den
Armen. Der Gefolterte blieb reglos sitzen.
»Kommen Sie zurecht?«
Kaltenbrunner nickte.
»Warten Sie, bis ich verschwunden bin, bevor Sie gehen. Aber warten Sie
nicht zu lange. Hier kann jeden Moment jemand auftauchen.«
Der Gefangene
brummte zustimmend. Krauss sah auf das zerstörte Gesicht des Mannes, wandte
sich ab und schritt zur Tür. Kaltenbrunners Stimme war eher ein Krächzen. »Wie
heißen Sie?«
Krauss drehte sich um. Offensichtlich hatte der Mann von dem Gespräch mit
Grasshoff nichts mitbekommen. Er zögerte. »Richard.«
Kaltenbrunner hob den Kopf. »Danke, Richard.«
Krauss errötete. Er hatte keinen Dank verdient. Ohne ein Wort wirbelte er
herum, ging durch den Kellergang, stieg die Treppe hinauf und trat durch die
Tür ins Freie. Lange würde der Überfall auf »Auerbachs Keller« nicht unbemerkt
bleiben. Krauss knöpfte seinen Mantel zu und ging davon. Es war Zeit für Plan
B.
Wildpark Werder
26. August Görings Sonderzug, Abend
Göring riss den Umschlag so ungeduldig auf, dass es Papierschnipsel auf
den Boden seines Salonwagens regnete. Er schnaufte. Hatte dieser leutselige
Schwede etwa gedacht, er würde sich mit seinem Arsch draufsetzen und den Brief
an Weihnachten lesen? Manchmal fasste er es nicht, was in den Leuten um ihn
herum vorging. Es schien ihm von Tag zu Tag mehr, dass er der Einzige war, der
in dem ganzen Schlamassel einen klaren Kopf behielt. Aber was nutzte es, wenn
er in staatstragenden Angelegenheiten nicht selbst entscheiden durfte. Die
wichtigen Weichen stellte ein anderer - einer, dessen Fähigkeiten ebenfalls
hinter den seinen zurückblieben. Mit dem Brief, den Dahlerus aus London mitgebracht
hatte, hatte er jedoch ein As im Ärmel. Immerhin stammte das Schreiben vom
englischen Außenminister Lord Halifax persönlich.
Göring faltete den Brief auseinander und begann, leise vor sich
hinmurmelnd, zu lesen. Nach zwei Minuten reichte er die Seiten an den ihm
gegenüber sitzenden Schweden.
»Meine Lesebrille liegt leider in einem anderen Abteil. Würden Sie so
freundlich sein, die Zeilen zu übersetzen? Denken Sie daran, dass jedes Wort
zählt. Wir können es uns nicht leisten, wegen semantischer Ungenauigkeiten in
einen Krieg
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