Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Schmidt keine so ganz unnennenswerte Karriere im Journalismus bevorstand. »Ich hole mir was zu trinken«, sagte Schmidt, »soll ich dir was mitbringen?«
V
PARIS . Vor dem Restaurant George V saßen Pia Holtrop und ihr Mann auf der Terrasse beim Abendessen, es war eine warme Sommernacht, die Autos auf den Champs-Élysées summten und leuchteten, das großstädtische Bewegtsein des Verkehrs euphorisierte Holtrop, auch das Essen war natürlich außerordentlich, und Holtrop textete manisch seine neuesten Pläne und seine augenblickliche Begeisterung auf seine Frau hin ein, genau so wie er früher immer seine Untergebenen zugetextet hatte, wenn ihm gerade danach war. Die Rücksichtslosigkeit Holtrops beschämte seine Frau. Sie war müde, wollte ihm aber gern die Freude machen, sich an dieser absurd kurzfristig angesetzten Parisreise zu freuen. Sie hatte sich an das hocheffizient eingerichtete Nebeneinanderher ihres Lebens gewöhnt, Holtrops Beruf hatte eine Abwesenheit Holtrops vom täglichen Leben der Familie, auch ein inneres Abgewendetsein von den Problemen der Kinder und seiner Frau zur Folge gehabt, das war normal, das hatte sich im Lauf der Jahre so herausgelebt, tatsächlich zur Zufriedenheit aller, weil Holtrop an seiner Letztloyalität der Familie und auch seiner Frau gegenüber nie einen Zweifel spürte und deshalb auch nicht aufkommen ließ. Die Rollen waren auf eine fast reaktionär geklärte Weise festgelegt, das Lebensmodell der Familie Holtrop war altmodisch, die Eltern und Eheleute Holtrop lebten eigentlich genauso, wie ihre eigenen Eltern gelebt hatten, er seinem Beruf, sie der Familie, das war unüblich geworden in diesen Jahren am Ende des XX . Jahrhunderts, das galt als rückständig, aber es hatte eben funktioniert, vorallem auch für Pia Holtrop. Sie war zehn Jahre jünger als er und hatte, als sie schwanger wurde, ihr beinahe abgeschlossenes Studium aufgegeben, um zu heiraten, und dann in schneller Folge die Kinder gekriegt, die sie, weil sie sie gemeinsam haben wollten, haben wollte. Vier Kinder und zwölf Jahre später wachte sie auf. Als ihre jüngste, 1994 geborene Tochter Cornelia mit drei Jahren in den Kindergarten kam, war Holtrop gerade zum künftigen Vorstandsvorsitzenden der Assperg AG gekürt worden. Die Vormittage hatte sie jetzt frei. Sie atmete einmal kräf-tig durch und nahm das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die sie an dem berühmten Berliner Szondi-Institut studiert hatte, wegen ihres Aussehens und ihrer intellektuellen Brillanz quasi ein Star der frühen 80 er Jahre dort, genau an der Stelle wieder auf, wo sie es mitzweiundzwanzig abgebrochen hatte. Sie war jetzt Mitte dreißig und fühlte sich im Kopf so klar, dass sie über die Ineffizienz im Nachhinein staunte, mit der sie zu Beginn ihres Studiums in einem irren Tempo in alle Richtungen gleichzeitig losgerannt war sozusagen, ohne überhaupt zu wissen, wohin sie wollte. Jetzt wollte sie den Abschluss und machte ihn, nicht in Berlin, sondern in Siegen, sie schrieb einfach die abgebrochene Magisterarbeit, es war immer noch Balzac, in einem dreiviertel Jahr fertig. Das Gefühl war herrlich. An ihrem Leben hatte sich dadurch nichts geändert, aber an ihrem Denken, vorallem an der Art, wie sie über sich selbst und ihr Leben dachte. Ein abgebrochenes Germanistikstudium war eine Lächerlichkeit, jetzt war sie eine Magistra Artium, das war auch lächerlich, aber es eröffnete Möglichkeiten. Sie sah die Kinder und freute sich, wenn sie da waren, wenn sie weg waren, hatte sie Zeit für sich selbst und freute sich auch. Sie bereitete dann die Kurse vor, die sie an der Schönhausener Volkshochschule gab, zuerst war es Deutsch für Ausländer, dann ein Lektürekurs, dann kam ein zweiter dazu, nach zwei Jahren konnte sie ihren eigenen Interessen folgen und anbieten, worauf sie Lust hatte. Das Lehren veränderte sie mehr als der Abschluss des Studiums. Man wird einfach ein sich weltwärts objektivierender Mensch dadurch, das stabilisiert auf richtige Art das Subjekt. Während die Frauen in Pia Holtrops Umgebung, gerade die ab Anfang, Mitte vierzig, den Weg in die Yogapraxis gingen, durch die sie gegen den altersbedingten Rückzug des Körpers aus dem Körper den Körper wieder in sich hineinzuüben versuchten, ging Pia Holtrop durch das Lehren an der Volkshochschule den umgekehrten Weg von sich und ihrem Körper weg, auf die Gegenstände des Geistes zu bei der Vorbereitung der Kurse und beim Vortragen dann auf die
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