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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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iterierender Rollatur, keine zwei Wochen später war Holtrop wieder maniefrei. Im Folgezustand des Stupor periodicus wurde Holtrop dann Anfang Oktober als Liegendtransport von Tegernsee zur finalen Endtherapie nach Schloss Blüthnerhöhe verlegt und dort zunächst mit Hirnwäsche und Blutabsaugung erfolgreich stabilisiert. Die für dieRückkehr in den Alltag nach Ansicht des Blüthnerhöhechefs erforderliche Endzerstampfung der Patientenpersönlichkeit wurde in Gespräch- und Basteltherapiestunden auch am Patienten Holtrop so erfolgreich durchgeführt, dass eine Entlassung auf Probe nun also ärztlicherseits versucht werden konnte. Als der brutale Rüttelopel mit Holtrop hinten drin endlich in Schönhausen einfuhr, machte Holtrop in einer Aufwallung von Schmerz die Augen zu. Nie mehr hatte er hierher zurückkehren wollen. Jetzt warfen ihn die, die ihn ungebeten und gegen seinen Willen aus seinem alten Leben herausgerissen hatten, ohne ihn gefragt zu haben, einfach hierher zurück, die Niedertracht dieser Befehlswillkür kam Holtrop maßlos und durch kein Eigenverschulden selbst verschuldet, sondern wirklich illegal und, ja, höllenhundhaft böse vor. »Wenn Sie dort vorne an der Ecke halten«, sagte Holtrop bei der Einfahrt auf die heimatliche Priecher Hauptstraße, »da steige ich gerne aus.« Holtrop wollte an der Ecke aussteigen, um die letzten paar Meter in Ruhe zu Fuß gehen zu können. Aber der Fahrer erklärte ihm in seinem Spezialdeutsch, dass das bei dem geschlossenen Transportauftrag, den er hier im Auftrag der Blüthnerhöheklinik fahre, nicht möglich sei. Erst an der ihm von der Klinik angegebenen Endadresse dürfe er Holtrop an die dort ihn erwartende Betreuungsperson übergeben. Holtrop musste an den verrückten Ersatzfahrer Zuber denken und hätte ausrasten können vor Zorn, war dazu aber innerlich viel zu geschwächt. Und so nickte er jetzt einfach nur und wiederholte leise für sich die Worte des Irrsinns: Betreuungsperson, Endadresse, übergeben.

VII
    NOVEMBER . »Doch wenn der letzte Text geschrieben ist«, sagte Traugott Buhre, der Pastor in Keitum auf Sylt, in seiner Ansprache bei der Augsteinbeerdigung, »und alles aus der Hand gegeben ist«, hier machte der Pastor eine Pause und schaute in die voll besetzte kleine Kapelle, in der die Trauergesellschaft um die Ehefrauen und Geliebten Augsteins, seine Kinder und Verwandten, versammelt war, auch die wichtigsten Spitzenleute von Mediendeutschland – ähnlich wie bei der Trauerfeier für Gräfin Dönhoff im März und bei Siegfried Unselds Beerdigung vor gerade eben erst zwei Wochen in Frankfurt – alles Leute, die eigentlich noch nichts aus der Hand geben wollten, im Gegenteil definitiv entschieden waren, alles, zumindest vorerst noch und so lange es ging, so total wie möglich in der eigenen Hand zu behalten, deshalb je nach Naturell demütig, schuldbewusst oder trotzig auf die Vollendung dieses Satzes warteten und es auch vermieden, den sie etwas zu lange schweigend anschauenden Pastor anzuschauen, wie er wartete und schließlich prophetisch drohend sagte: »dann werden die irdischen Beurteilungen vom Winde verweht.« Vom Winde verweht . Die irdischen Beurteilungen. Die letzten drei Worten hallten in der Kapelle nach und wurden zwischen den weiß gekalkten Wänden, zwischen denen die schwarz bekleideten Trauergäste saßen, hin- und hergeworfen. Aber stimmt denn das überhaupt? Die Praktiker des Lebens, die Sieger, Gewinner, Mächtigen, die sich im ersten Moment automatisch gegen diese Annihilation ihrer gesamten Aktivitätsexistenz gewehrt hatten, denn irdische Urteile und Beurteilungen waren die Währung ihrer Ehre, die ihnen das Leben an der Spitze der Gesellschaft ermöglichte, mussten im nächsten Moment schon, waren sie aufrichtig, den traditionellen Kompetenzvorsprung der Kirche in der vom Tod für alle eine kurze Zeit lang fundamental veränderten Welt anerkennen. Es war die Perspektive des Toten selbst, oder zumindest die, die man dem Toten, der in Ruhe ruhen möge, wünschte, aus der heraus gesagt der Satz nicht nur der reine Kitsch war, sondern zumindest vielleicht, möglicherweise wahr, »der letzte Text«, notierte der Berichterstatter Schmidt, »vom Wind verweht«. »Wo ist Holtrop?« hatten Schmidt vor Beginn der Trauerfeier einige Kollegen gefragt, »nicht eingeladen«, sagte jemand, »krank«, ein anderer, »er traut sich seit dem Asspergrauswurf«, sagte Schmidt, »nicht mehr unter Leute«, dabei deutete er an, mehr und

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