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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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Augenhöhlenleere auseinandergerissen und an die Wand dahinter gesplattert worden war, konnte der von diesem Suizid betroffene Angehörige, zuallererst der damals gerade dreißigjährige Sohn Bernhard Holtrop, nicht anders auffassen denn als letzte, grausige Botschaft: das hast du aus mir gemacht, dein Vater. Maddoff, der Großvater Johann Holtrop senior und dessen fanalhafter Abgang in den Tod, den Holtrop mit fünf Jahren ungenau mitbekommen hatte, waren am entscheidenden Tag bei Assperg die Holtrops Handeln hemmenden Störgedanken gewesen, die ihm auch beim Schreiben seines Memorandums jetzt immer wieder ins Gedächtnis und vor Augen kamen, vorallem die schmutzstarrende Wand in dem aus dicken Luftschutzmauern gebildeten Kellerraum, an die hin der Großvater sich selbst exekutiert hatte. Von einem Herzversagen war in der Familie danach die Rede gewesen, daran hatten sich alle gewöhnt, und Holtrops Kinder wussten nur dies über den Tod des ihnen sowieso unendlich fernen Urgroßvaters. Holtrop hatte noch nie länger als einen halben Tag zurückgeblickt, zurecht und richtigerweise, wie er jetzt dachte, während er den Ablauf der Wochen vor der letzten Sitzung rekapitulierte, Begegnungen, Gespräche, Momente, aber da das Resultat ja unausweichlich feststand, war es sinnlos, den sich ebenso unausweichlich aufdrängenden Fragen nachzugehen, was genau er anders hätte machen können, vielleicht müssen, dass allesanders gekommen wäre: »ja, ja, ja«, dachte er wütend, empört, zunehmend auch manifiziert vom Sicherinnern und Schreiben, und dazwischen kamen Anrufe aus allen Ecken seines früheren Lebens, »wie gehts dir?«, »viel Glück«, »alles Gute«, und immer zorniger schrie Holtrop den angeblich um sein Wohl besorgten Neugierigen zu: »danke, bestens, vielen Dank!« Man will ja kein Mitleid, Mitleid ist schlimmer als Neid oder Hass, Fürsorge in Wirklichkeit doch nur Niedertracht. Aber kein Gedanke, auch dieser Wutgedanke nicht, fand Halt im Meer der Stunden, das jeder Tag war, ohne Termin, ohne Pflicht. Denn nichts von alledem, was Holtrop sagte, dachte oder niederschrieb, hatte irgendeine Folge irgendwo, für irgendjemanden oder irgendetwas, alles, was er machte, dachte, sagte, schrieb, blieb ohne Wirkung, folgenlos, aus einem simplen Grund: Die Macht war weg. Der Rand war weg, der Widerstand, er selbst. Mittags sollte er zum Essen nach unten zu den anderen kommen, er wollte aber nicht. Er blieb in seinem Zimmer. Einmal bekam er einen Anruf vom Spiegel, »Schmidt, der Spiegel«, und versehentlich redete Holtrop zu lang, zu ausführlich und zu ehrlich mit dem freundlich und gut informiert ihn befragenden Schmidt. Nach dem Auflegen war Holtrop unruhig, ob das von ihm Gesagte gegen ihn verwendet werden könnte, auch diese retrospektiv orientierte Unruhe war ihm fremd, neu und widerwärtig. Es gibt kein richtiges Leben im Denken, dachte Holtrop nicht direkt, aber eine Empfindung dieses Inhalts beschäftigte ihn und verärgerte ihn zusätzlich. Abends ging er schließlich ins Wohnzimmer und zeigte sich den dort vor dem Fernseher versammelten Mitgliedern seiner Familie. Die von ihm künstlich angegrinsten Kinder schauten den sinnlos vor sich hinnickenden Vater betrübt und angewidert an und waren froh, wenn er bald wieder weg war. Nachts lag Holtrop wach im Bett neben seiner Frauund rechnete in Gedanken die mit Mack vereinbarten Honorarzahlungen nach. Wenigstens der Gedanke an Geld beruhigte ihn, die Bezahlbarkeit der Welt war Faktum, zumindest mit seinem eigenen Geld konnte er immer noch machen, was er wollte. Er setzte sich auf, saß am Bettrand und hatte plötzlich die Idee, das kommende Wochenende mit seiner Frau in Paris zu verbringen, romantische Reise, einfach so, diese Idee war sogar realisierbar. Leise stand er auf und ging in sein Arbeitszimmer hinüber, der Computer war noch an, Holtrop drückte eine Taste, und der Bildschirm links von ihm wurde hell. Er wählte sich ins Internet ein, eine Melodie erklang, eine Frauenstimme sagte: »Sie haben Post«, aber Holtrop klickte die Mails nicht auf. Zurückgelehnt saß er da und dachte an Paris, aber in der Konkretion der Absicht, ein Hotel zu buchen, war ihm der Reiseplan sofort wieder verfault, verfehlt, absurd vorgekommen. Er wurde müde, ließ den Kopf in die Hände sinken, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in den Händen, saß Holtrop da, seitlich vom Licht des Computers bestrahlt. »Komm doch auch ins Bett«, sagte von hinten seine Frau, und

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