Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
anderen Körper und Menschen zu, zweimal weltwärts, zweimalvon sich weg. Sie führte äußerlich das Leben einer verheirateten Hausfrau und Mutter von vier Kindern und war in Wirklichkeit, geistig: ein völlig unabhängiger Mensch.
Holtrop hatte von diesen inneren Veränderungen seiner Frau in den Jahren, in denen er bei Assperg alles gegeben hatte, wenig mitbekommen. Er merkte nur jetzt beim Reden mit der Zeit doch, wie wenig sie seine Begeisterung teilte, wie skeptisch sie ihn offenbar sah. Das verunsicherte ihn, hysterifizierte ihn plötzlich zusätzlich. Als der Kellner die bestellte Zigarre nicht sofort brachte, auf Anmahnen Holtrops dann die falsche, glaubte Holtrop sich nur wegen seines stark akzenthaften Französischs als Ausländer nicht ganz ernst genommen, sprang auf, schrie den Kellner an, rannte in den Laden hinein und verlangte dort schreiend in immer schlechterem Französisch den Geschäftsführer zu sprechen. Eine Gruppe junger Russen, die am Zentraltisch vor dem Fenster saßen, fühlte sich von dem Geschrei belästigt und machte auf Englisch, in Holtrops Richtung gesagt, ein paar spöttische Bemerkungen über den verrückt gewordenen deutschen Gnom, der hier wie ein wiedererstandener Goebbels den totalen Krieg verkündete. Als Holtrop das Wort Goebbels gehört hatte, sich damit als Faschist etikettiert und verhöhnt fühlen musste, fuhr er herum, sah die lachenden jungen Russen und drehte jetzt wirklich endgültig durch. Ganz langsam ging er auf die Russen zu, sah den opulent gedeckten Tisch, die vielen Teller mit dem Essen, die Gläser, die Flaschen, das glänzende Besteck auf der weißen Tischdecke, den leuchtend hellen Stoff, und während er immer näher dorthinkam und es auch ganz still geworden war, weil er selbst zu schreien aufgehört hatte, fürchtete er sich vor dem, was jetzt gleich geschehen würde. Zwei der jungen Russen waren aufgestanden. Einschüchternd riesig standen sie hinter ihrem Tisch. Und konnten nicht verhindern, im Gegenteil, warenals Gestalten einer bedrohlich eindeutigen körperlichen Übermacht der Letztauslöser, dass Holtrop sich dazu gezwungen sah, sein Recht, das ihm hier von allen auf das alleraggressivste verweigert und abgesprochen wurde, selbst in seine eigenen Hände zu nehmen, indem er, nach einem letzten Schritt auf den Tisch zu, die Tischdecke packte und mit einem irrwitzigen Schwung und Lärm und Krach und einer Gewalt, die ihm niemand hier zugetraut hätte, vom Tisch herunterriss, dabei zurücktrat, in das Krachen und Klirren hinein wieder nach vorne ging, den Tisch von unten packte und den russischen Stehriesen, die ihn verblüfft anschauten, entgegenschleuderte. Der Lärm war gigantisch, die Reaktion vergleichsweise zivil. Holtrop wurde von zwei Sicherheitsleuten des Lokals zu Boden gerissen und dort gewaltsam festgehalten, dann hinter die Bar gebracht. Pia Holtrop war zuerst noch draußen sitzen geblieben. Dann stand sie in der Türe und sah, wie ihr Mann vom Boden des Lokals aus mit der Verzweiflung eines geschundenen Tieres zu ihr hochschrie: »Warum hilfst du mir nicht!« Die Polizeisirenen heulten auf, die Wagen fuhren heran, die Polizisten aus vier Polizeiwagen gingen in das Lokal, übernahmen den deutschen Patienten und brachten ihn in die psychiatrische Notaufnahme des Hospitals von la Salpêtrière.
VI
OKTOBER . Im Herbst kam Holtrop als gebrochener Mann wieder nach Hause. Drei Monate Psychiatrie hatten aus dem einstigen Vitalitätsgenie ein Wrack gemacht. Ein Taxi war bestellt, weil niemand Zeit hatte, ihn abzuholen. In sich zusammengesunken stand Holtrop im Mantel vorSchloss Blüthnerhöhe an der Haupttreppe, einen kleinen Koffer neben sich, und wartete darauf, dass das Taxi auf der Straße weiter unten in dem Tal auftauchen und zu ihm hochfahren würde, aber das Taxi kam nicht. Es war Ende Oktober, der Himmel hing tief, und der Wind fegte über den Hügel hin, auf dem die Therapieeinrichtung Blüthnerhöhe gelegen war. Hier hatte Holtrop die letzten drei Wochen in Rehabilitationsbehandlung verbracht. Von den Therapeuten war er zu dem Persönlichkeitsmus zerstampft worden, das hier Normalität war, vom ursprünglichen Mensch Holtrop war nichts übrig, angeblich geheilt wurde er als final Kaputtgemachter in sein früheres Leben zurückgeschickt. Ein Auto kam hoch, ein großer Opel Vivantes, ein Transporter für acht Bauarbeiter statt eines normalen Taxis für den einen ausgebrannten Ex- CEO . »Für Orlog?«, fragte der Fahrer, nachdem er
Weitere Kostenlose Bücher