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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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Genaueres zu wissen. »Und der kleine Dicke da?« »Ist das nicht dieser Telekomtyp«, »der von früher?« »Auch gegen Holtrop soll ja übrigens die Anklage schon vorbereitet werden«, sagte Schmidt, »wegen Untreue, Bilanzfälschung etc.« Draußen standen die Leute nach der Beerdigung in kleinen Gruppen zusammen und redeten, es war ein kalter, sonniger Tag. Der alte Assperg war schon am Weggehen, als Spiegelchef Czisch auf die Gruppe um ihn und Wenningrode herum zutrat, auf Wenningrode zeigte und fröhlich befahl: »Und jetzt sind Sie dran!« Wenningrode grinste lasch. Czisch: »Mit Interview!« »Natürlich«, sagte Wenningrode. Czisch verabschiedete sich und ging zur nächsten Gruppe weiter, wo Flimm und Bissinger zusammenstanden, daneben Sommer, Rau und Helmut Schmidt. Sie redeten über die große Trauerfeier, den Staatsakt, der am kommenden Montag in der Hamburger Kirche St. Michaelis zu Ehren von Rudolf Augstein stattfinden würde. Und heißt es nicht auch: »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« »Ja«, sagte Flimm, »trifft hier nicht zu, ist aber eine schöne Stelle.«

VIII
    DEZEMBER . Irgendwann hatte sich der Dax dann doch wieder gefangen, war nach dem jahrelangen Absturz aus den Achttausendergipfelhöhen bei 2519 Punkten aufgeschlagen, hatte sich gedreht und war seither in eine langsam sich verstetigende, bald sogar beschleunigende Steigbewegung übergegangen. Holtrop erlebte den Turnaround der Kurse zu Hause. Meist im Bett, in der Bibliothek und an schönen Tagen, von denen es in diesem Spätherbst einige gab, auch auf der Terrasse oder im Park. Im dicken Bademantel ging er durch den verwilderten Park auf der südwestlichen Grundstücksseite. Mit einem Zweig stocherte er im Gestrüpp und haute gegen die Stämme der hohen Bäume, ging durch die früher, vor dem Ersten Weltkrieg, hier aus Licht und Laub, geschwungenen Wegen und Grasflächen angelegte Gartenanlage bis zur Grenze, wo hinter dem Zaun die Gleise einer selten befahrenen Bahnlinie vorbeiführten. Dort stand er und schaute nach draußen. Ein weites Feld, ein Waldrand in der Ferne, rechts der Kirchturm der alten Dorfkirche von Prieche. Anfang Dezember gab es zum ersten Mal Schnee, Mariä Empfängnis, der zweite Advent. Holtrop stand nachmittags am Zaun und schaute ins Weiß der frisch fallenden Flocken. Von hinten hörte er einen Wagen, an manchen Sonntagen kam Salger zu Besuch. Holtrop drehte sich um und sah zuerst das Licht der Autoscheinwerfer durch die Büsche und Sträucher hindurch zittrig auf und ab und hin und her huschen, dann den silbernen Sportwagen selbst. Jedesmal gab ihm der Anblick dieses Autos einen Stich ins Herz. Langsam ging er zum Haupthaus zurück. Mit dem Salgerproblem verhielt es sich inzwischen so: Salger hatte der Familie während Holtrops Krankheit auf vielerlei praktische Art geholfen, war an den Wochenenden von Krölpa herübergekommen, hatte Holtrop in der Klinik am Tegernsee und auf Schloss Blüthnerhöhe besucht, sich mit den Kindern gut verstanden und mit Pia Holtrop sowieso. Die Attraktion zwischen Pia Holtrop und Salger war so stark und deutlich gewesen, dass jeder der beiden für sich schnell zu der Klarheit der Entscheidung gekommen war, aus vielen dunklen Gründen und dem einfachen Gefühl der Loyalität dem erkrankten Holtrop gegenüber, das Abenteuer der Affäre, das sich hier mit einer Macht aufdrängte, die man auch als schicksalshaft verstehen hätte können, vorerst doch eher zurückzuweisen. Man verliebt sich auch, wenn man es will, nicht nur, wenn Götter es befehlen. Die Himmelsmacht der Liebe ist, entgegen einer gegenteiligen Propaganda, von den Menschen mitgemacht, willentlich mit dem nicht völlig unfreien Willen aktiv auch mitgewollt. Die meisten wollen sich meistens gerne neu verlieben, deshalb geschieht es so oft. Auch Pia Holtrop hatte viele gute Gründe, nach inzwischen über fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahren Ehe an der Seite ihres maßlos auf sich und seine Arbeit bezogenen Mannes, in Salger das Modernere, Offenere, auch Weichere und Vitalere des jüngeren Mannes attraktiv zu finden und in der möglichen Affäre ganz zielgerichtet den Nukleus eines vielversprechenden neuen Lebens zu sehen, um diese Option zu wählen. Über die Gründe gab sie sich keine klare Rechenschaft, »vorerst noch nicht«, hatte sie in dem Moment im Auto gedacht, als sie durch den neben ihr sitzenden Salger und das gemeinsame Anschauen der Karte, über die sie ihre Köpfe gebeugt hatten,

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