Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
verursacht, zu ihrer großen Freude aus der Mitte ihres Körpers heraus erstaunlich deutlich übermittelt bekam: »ja, ich will«. Der Körper will, das hatte sie erfreut und den Freiraum eröffnet, den Kuss, der ihr im Zustand dieser Bereitschaft so natürlich nahe war, vorerst aufzuschieben. Aus dem Vorerst ergab sich die Möglichkeit, diese Bauchentscheidung gegen das Bauchgefühl nicht als Verzicht erleben zu müssen. Holtrop wusste nicht, ob die Freude an der Sexualität mit seiner Frau seit dem verdrängten Brandbild der zu nahen Köpfe von Salger und ihr, damals im Auto am Waldweg bei Redecke, etwas Unwahres, Kompensatorisches oder gar Verlogenes bekommen hatte, ließ die Frage instinktiv offen und vertraute der Materialität der Fakten, der eindeutig beidseitigen Freude. Pia Holtrop wusste nicht, dass ihr Mann den Entscheidungsmoment zwischen ihr und Salger mitbekommen hatte, war aber im Nachhinein darüber froh, dass ihre Entscheidung so ausgefallen war. So hatte sie nichts zu verbergen, konnte Salgers Hilfe während Holtrops Krankheit annehmen und hatte inzwischen ein hintergedankenloses, auch von der körperlichen Attraktion fast freies Freundschaftsgefühl für Salger, so wie Holtrop selbst es ja auch hatte, wenn Salger bei ihnen zu Besuch war. Und direkt drehte sie sich, als Holtrop von draußen zur Türe hereinkam, in der Küche Salger und sie nebeneinander stehen sah, zu Holtrop um und sagte: »Wir haben Besuch, es gibt Tee!« »Ja«, sagte Holtrop, »draußen fällt Schnee, ganz schön dort hinten am Zaun, wo alles weiß geworden ist.« Die Wassertropfen auf Holtrops Bademantel glitzerten. »Sie sind ja ganz nass«, sagte Salger, »stimmt«, sagte Holtrop, klopfte den Mantel ab, zog ihn aus, und gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, um Tee zu trinken und zu plaudern, und Salger erzählte von Krölpa, Assperg und Schönhausen.
IX
BERLIN . Im grünlichen Licht der Großbaustelle ging Sprißler, der König der klandestinen Papiere, auf die ihm von Duhm genannte hintere LKW -Einfahrt zu. Es war halb acht in der Früh, fast noch dunkel, der hohe Metallzaun um die Baustelle herum war grell angestrahlt, der Gehweg daneben, auf dem Sprißler ging, verschmutzt, auf der Straße stand eine Kolonne schwerer Laster, die im Akkord den Fertigbeton anlieferten, der über das Stoßpumprohrsystem zur Betonverteilung nach innen gebracht, auf die eingeschalten Feststahlgitter gesprüht und dort zum Stahlbetonboden der dritten Etage zusammengestampft wurde, von Trupps von jeweils fünf Leuten gesteuert, aufgespritzt und zitterschlauchentlüftet. Der Lärm dieser die Weite des ganzen Gesichtsfelds durchwimmelnden Tätigkeiten hier vor Ort, das Stampfen, Gurgeln, Brüllen, Schlagen und Schaben, war eine vertraute und als schön empfundene Musik in den Ohren des Architekten Braunfels, der Sprißler entgegenkam und unterwegs war zur Baustellensteuerhütte auf der Gegenseite der LKW -Zufahrt, um dort die aktuelle Planfeststellungsüberprüfung abzunicken. Hinter der LKW -Schranke, auf die Sprißler zuging, war rechts das Wärterhaus, von dort kam Sprißler der ihm nicht bekannte russische Großgrobian Dobrudsch entgegen. »Herr Sprißler?« sagte Dobrudsch, und als Sprißler nickte, zeigte Dobrudsch auf den Weg: »bitte hier!« und ging voraus. Auf engen Wegen gingen sie zwischen Gerüstmaterial, Baugeräten und Schuttbergen hindurch nach hinten. Dobrudsch drehte sich im Gehen um und schaute, ob Sprißler hinter ihm herkam, da fiel Sprißler ein, dass er diesen Mann schon gesehen hatte, und zwar im Heizungskeller des Arrowhochhauses, dort hatte er als Wachmann gearbeitet. Ganz hinten, wo die Containersiedlung für dieErsatzbaufachkräfte aufgetürmt war, mehrere Containerreihen in die Höhe und in die Tiefe gestapelt, ging Dobrudsch im Schacht zwischen zwei Containerrückseiten hindurch, sagte wieder »hier!«, machte eine Türe auf, und dann standen sie in der für die Besprechung mit Duhm vorgesehenen Containerkammer. »Duhm kommt gleich«, sagte Dobrudsch und ging wieder hinaus. Sprißler hatte nichts dagegen, in einem solchen sauber aufgeräumten Bauarbeiterloch seine Welterfahrung etwas zu erweitern. Von Salger hatte er den Hinweis bekommen, dass die laufende Untersuchung der Theweüberwachung durch die von Wenningrode und Brosse eingesetzte Kanzlei Latham & Watkins dazu instrumentalisiert werden sollte, ihn der Fabrikation von Beweismitteln zur Rechtfertigung der illegalen Maßnahmen gegen Thewe zu überführen. Es
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