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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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Debatten über strategische Fragen der Firmenpolitik einzigartig, »auf Universitätsniveau!« rief Holtrop, als wäre das real das Höchste. Unverzichtbar sei für ihn als CEO die Expertise eines jeden seiner Kollegen im Vorstand, Holtrop nannte speziell Ahlers und Wenningrode, aber auch Uhl, Teerhagen und Schuster und sprach voll Bewunderung über deren besondere Talente.
    Das Loblied war gelogen, es klang auch sehr grell. Aber Holtrop dachte in diesem Moment genau so, wie er sprach, er war mit der Lüge selbst komplett identisch. Die Leute wollten gelobt werden, diesen Gefallen konnte Holtrop ihnen tun. Es kam als Nutzen zu ihm zurück, das war Holtrops Erfahrung, also lobte er die öffentlich, die er für sein Fortkommen brauchen konnte, dafür musste er sich innerlich nicht verbiegen. Vor Publikum, also auch im Gespräch oder in der Situation des Interviews, dachte er automatisch, was er denken wollte. Das war nicht davon diktiert, was er wirklich dachte, sondern davon, was ihm nützte. Darin hatte die Effizienz des Holtropschen Gehirns ihre Ursache, dass es abgewendet war vom Zweifel in einem Ausmaß, wie es selbst bei Menschen der Tat selten anzutreffen ist. In der Bewegung war Holtrop bei sich, auf der Flucht vor Wahrheit, immer fort von dort, wo er selbst gerade, wo der Zweifel war: weg von Schönhausen, weg von den Anfeindungen dort und hin nach Krölpa, schnellstens wieder weg von Krölpa, aus der Depression der Ostprovinz nach Berlin, von dort und der dortigen Leere wieder zurück nach Schönhausen und möglichst sofort via Frankfurt nach New York, Shanghai oder Hongkong, »broaden your horizon, man!«, und Holtrop zeigte nach draußen, wo die Autolichter rot und weiß durch die Dunkelheit dahinzogen, im breiten Fluss, auf der sechsspurigen Autobahn kurz vor Berlin, ein phantastisches Bild geschäftiger Bewegung an diesem Freitagabend. In der Ferne sah man schon den Glanz am Himmel über der Stadt hellweißlich schimmern.
    Und Fehler? »Sind denn keine Fehler passiert?« fragte Frau Zegna. Denn Holtrop hatte von seiner Zeit als Asspergchef als einem einzigen Triumphzug gesprochen, als habe er selbst dabei überhaupt keine Fehler gemacht. »Wir machen alle Fehler«, sagte Holtrop, »wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das geht gar nicht anders.« Von sich selbst und von eigenen Fehlern aber sagte er nichts. So sei er wohl noch nie, hatte sie ihn deshalb gefragt, an irgendwelche Grenzen gestoßen. »Oh!, an viele«, war Holtrops Antwort, »an nichts als Grenzen, Vorschriften, kleingeistige Hindernisse und Grenzen«, als Unternehmer in Deutschland, das sei ja die Krux, bestehe das Leben zu 98 Prozent aus völlig schwachsinnigen, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädlichen Grenzen. Aber die Politik wolle davon bekanntlich nichts wissen und nichts hören, die Politik sei da lachhaft beratungsresistent. »Ich meinte innere Grenzen.« »Innere!« Holtrop lächelte. Irgendetwas, was in ihm vorging, gefiel ihm wieder einmal besonders gut an sich selbst. Sie präzisierte: »Grenzen der eigenen Begabung etwa.« »Der Begabung, ja«, sagte Holtrop, und sein Lächeln wurde schief und grimmig, »so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Begabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.« Und Frau Zegna hatte in dem Moment in einer für sie selbst erstaunlichen Klarheit die Worte gedacht: »Wie kann ein Mensch so DUMM sein?« Ein offensichtlich kluger Mensch, so eindeutig und überdeutlich dumm?

    Thewe stand im Wohnzimmer seines Hauses neben einem schweren, weinrot bis zum Boden hängenden Vorhang an der Fensterfront und schaute nach draußen, über den Garten hinaus auf den See, als der Anruf von Leffers endlich kam. Es war halb zehn Uhr abends, Freitag, Leffers hatte sein Kommen für acht, halb neun angekündigt, obwohl er für den Abend mit Holtrop verabredet war. »Kein Problem«, hatte Thewe gesagt, er sei ja sowieso zuhause. Und dann gewartet. Halb neun, viertel vor neun, neun, alle fünf Minuten schaute Thewe auf die Uhr, alle drei Minuten, er wurde immer verrückter, immer unruhiger. Thewe hatte gehadert mit seiner Einladung, es wäre besser gewesen, wenn sie sich in der Stadt verabredet hätten, anstatt bei ihm zuhause, »das war falsch!« dachte Thewe, und dann hatte er weiter gewartet, sinnlos aufgeräumt im Haus, die Zeitungen durchgeblättert, aber er

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