Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
öffentlich und überdeutlich vorgeführt wurde.
Die Ankunft der Gäste war offiziell für ab elf Uhr vorgesehen. Aber weil der betont informelle Charakter des Frühstücks der Gastgeberin umso wichtiger geworden war, je offiziöser er sich in Wirklichkeit entwickelt hatte, wurde erwartet, dass die Eingeladenen mit dem Zeitpunkt ihres Eintreffens ein ausreichendes Maß an Lockerheit demonstrieren würden. Es galt als unüblich, vor zehn nach elf zum Frühstück bei Kate Assperg zu erscheinen. Wer pünktlich um elf Uhr kam, stand, vom Personal kühl hereingebeten, unbegrüßt und einsam mit dem Drink in der Hand da, und die kitschtosenden Wände um ihn herum sagten: »Stell dich in die Mitte dieses Saals und warte hier.« Ab fünf, sechs, sieben Minuten nach elf Uhr kamen die Autos dann vorgefahren. Das asspergsche Anwesen lag in den Hügeln über dem Bokersee am Rand von Redecke. Die kleinen Straßen, die vom See nach Redecke hochführten, waren eng gewunden und an diesem Samstag von schmutzigem Schneematsch bedeckt. Nachts hatte es geschneit, jetzt regnete es.
Zwischen Bokel und Redecke war eine Senke, deren Rand Holtrops Ehefrau Pia Holtrop in dem Moment erreichte, als Salger, der heute zum ersten Mal eingeladen war, mit seinem Auto dort gerade stecken geblieben war. Sie hielt an, ließ die Fensterscheibe nach unten fahren und setzte ihre Sonnenbrille auf. Salger stand am Heck seines Autos im Matsch. Die Reifen hatten hochtourig durchgedreht und dabei tief in den Boden eingeschnitten, so dass es Salger kaum mehr möglich war, den Wagen aus eigener Kraft dort wieder herauszufahren. »Kann ich Ihnen helfen?« sagte Pia Holtrop. »Vielleicht. Haben Sie ein Seil da?« antwortete Salger. »Eventuell im Kofferraum.« Salger nickte. Hinter Salgers silbernem Audi TT turbo und demhochhackigen schwarzen BMW X5 , in dem Pia Holtrop saß, hatten sich schon einige andere Wagen gestaut, alles Gäste, die zum Frühstück bei Kate Assperg fuhren. Die Wagenkolonne setzte zurück. Pia Holtrop erklärte Salger, wo in ihrem Wagen das Seil sein müsste, Salger ging zur hinteren Klappe, öffnete sie, nahm das dort liegende Seil heraus und hängte es zuerst an seinem, dann an ihrem Wagen an. Er setzte sich in sein Auto und schaute nach hinten. Mit Gefühl und Kraft schleppte der Wagen von Pia Holtrop den kleinen von Salger nach hinten heraus frei. Salger ließ den Motor laufen, stieg aus, hängte das Seil aus und gab es Pia Holtrop durchs Fenster zurück. Dann setzte er sich wieder in seinen Sport-Audi und fuhr mit Schwung durch die zermatschte Senke vor Redecke, dahinter waren die Wege geräumt.
Beim Eintreffen der Wagenkolonne vor der Auffahrt zum Schloss war es schon fast halb zwölf. Kate Assperg stand im Turmzimmer hinter einem Vorhang am Fenster und beobachtete von dort oben die Ankunft ihrer Gäste. In gelben Gummistiefeln ging Richter vorneweg, blond gelockt, breit grinsend, die riesige Gestalt federte bei jedem Schritt energisch hoch und vorwärts, und an der Hand zog er ein kleines Mädchen hinter sich her, seine demnächst dritte oder vierte Frau. Kate Assperg machte eine vernichtende Bemerkung über das Paar, gerichtet an den zwei Schritte hinter ihr stehenden Schnur, ohne ihren Blick von der Auffahrt zu wenden. Schnur nickte wortlos. Ein Kommentar von ihm zu der Bemerkung seiner Chefin war in dieser Situation, wie auch sonst meistens, nicht vorgesehen. Der Regen hatte aufgehört. Richters Gummistiefel stapften grellgelb über die hellgrau glitzernden, noch nassen Steine des Gehwegs hoch zum Schloss. Hinter Richter ging der etwas schlankere, aber ähnlich hochgewachsene und von sich selbst mindestens genauso eingenommeneDornach, neben Dornach Zehrer, dahinter im Pulk noch einige andere Asspergianer, Oehnke, Köhler, Mikolaiczyk. Alles Männer in ihren mittleren und späten Vierzigern, Brecher, Macher, schwach talentierte Manager der oberen Ebene im Zenit ihrer Karriere, die sich schon vor Jahren von äußersten, illusorischen Ambitionen verabschieden hatten müssen, einen Sitz im Vorstand etwa zu erreichen, und sich statt dessen den angeblich schöneren Dingen des Lebens zugewendet hatten, dem Essen, dem Reisen, dem Sport, natürlich auch der Sexualität, dem Körper also und der dabei insgesamt lustvoll und planmäßig betriebenen Vergröberung ihrer Existenz. Mit abgestumpftem Geist wanderten sie bestens gelaunt dem Frühstück im Haus Assperg entgegen, den dort sie erwartenden Herausforderungen geselliger Art, für sie:
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