Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
wollte. Nach nur einer Woche des neuen Regimes, der sogenannten Schönhausenoffensive Holtrops, sehnten sich die Mitarbeiter in Holtrops Office of the Chairman nach dem alten Überfliegerholtrop, der nie da war, dafür medial in hysterischer Weise permanent über- und omnipräsent. Das hatte genervt, aber konkret wenig gestört. Der neue Holtrop, der ernsthafte, in Schönhausen täglich sechzehn Stunden für Assperg vor sich hin schuftende Arbeitsholtrop war ein echtes Problem. Die eigentliche Arbeit wurde durch sinnlose Anfragen und Nachkorrekturen aufgehalten, und der ständige Nahkontakt mit Holtrop führte gerade bei den fachlich hochqualifizierten Leuten zu Skepsis, schnell zu einer Haltung der Verachtung Holtrop gegenüber. Bei jeder zweiten Nachfrage Holtrops wurde deutlich: Er weiß ja gar nichts, im Konkreten wusste er nichts und bluffte dabei zugleich so schamlos, dass es lächerlich offensichtlich war. Eben damit hatte Holtrop aber jahrelang den größten Erfolg gehabt, mangelnde Autorität hatte er mit seinem alles überstrahlenden Charisma ausgleichen können. Charisma ist aber auf Seltenheit und Plötzlichkeit der Charismatikererscheinung angewiesen. Jetzt war Holtrop dauernd da, zeigte Inkompetenz, Hysterie, Fahrigkeit und seinen in nichts fundierten Hochmut als tägliche, den Arbeitsprozess bestimmende Qualitäten vor, das zerstörte jede Autorität. Noch wurde über all das nicht viel geredet. Die Betroffenen tauschten manchmal einen Blick aus, in dem sie sich darüber verständigten, dass sie Holtrops defekten Charakter erkannten.
Um halb acht kam Frau Rösler ins Zimmer, brachte einen Teller Obst, frischen Kaffee und die Unterschriftenmappe herein. Die Mappe legte sie auf den Schreibtisch rechts, links stellte sie das Tablett hin. Holtrop nickte zum Dank in seinen Computerbildschirm hinein. Frau Rösler blieb stehen. Holtrop schaute sie an und bekam sofort schlechte Laune, die ihm von ihr präsentierte Freundlichkeit kotzte ihn unglaublich an. Er sagte: »War sonst noch was?« »Nein«, antwortete Frau Rösler und ging weg. Holtrop hatte den einen Gedanken und das eine Ziel im Moment: Assperg zu restabilisieren, und zwar in rasendem Tempo. Aber das war den Leuten nicht klarzumachen, dass Assperg am Rand des Abgrunds stand. Die Leute wollten ihren alten Gute-Laune-Holtrop zurück, der zu allem immer nur »ja, ja!« gesagt hatte. Diese Forderung war absurd. Holtrop musste derzeit zugleich als Vorstandschef, Technikvorstand, Finanzvorstand und Chief Operating Officer in einer Person tätig sein, denn nur aus dieser umfassenden Generalverantwortung heraus konnte er das notwendige Sanierungskonzept erarbeiten. Entscheidend würden die Termine im Frühjahr sein. Zur Bilanzpressekonferenz im April und zur Hauptversammlung der Aktionäre Anfang Mai musste erkennbar geworden sein, ob Holtrops Rettungskonzept greifen würde. Der Irrsinn war aber: Holtrop hatte kein Konzept. Er hatte nicht eines, sondern viele, jeden Tag ein neues, alle zehn Minuten vier einander widersprechende Konzeptideen. Holtrop starrte in die Mitte seines Bildschirms und zerfetzte die Mails seiner Mitarbeiter in der Luft des konzerninternen Intranets, obwohl er wusste, dass ihn das nicht retten würde, weil es Assperg nicht retten würde. Auf jede Mail reagierte er, zu allem merkte er irgendetwas an, Sinnloses fast immer, sinnloserweise, wie er wusste. Und trotzdem beantwortete er weiter diese Mails, anstatt nachzudenken. Aus dem Umfeld seiner Leute kam natürlich nichts. »Flaschen«, dachte Holtrop. Jedesmal wenn ihm all das bewusst wurde, durchfuhr ihn der Schreck, dass er sich vielleicht verzockt haben könnte. Dabei bemerkte er plötzlich den unangenehmen Gedanken: »Die Panik wächst.« Erschreckt lehnte sich Holtrop zurück. »Was war das?« dachte er. Aber da war nichts, nur das Mantra: »ja ja, ja ja«.
XV
Management by Charisma war gestern. Auch gesteigerten Inhaltismus hatte sich Holtrop verordnet, nicht nur permanente Anwesenheit in seinem Schönhausener Büro. Fahrig stürzte er sich auf die neuesten Papiere, jeden Morgen neu. Die Vorarbeiten zur Bilanzpressekonferenz, die Holtrop in früheren Jahren gar nicht weit genug von sichwegdelegieren hatte können, kamen jetzt täglich stapelweise auf seinem Schreibtisch an. Die Berechnungen, Zahlenkolonnen, Analysen, Erwägungen und Tricks waren als Exempla eines durchgeknallten Detaillismus am Objekt Zahl zwar unterhaltsam, auch irgendwie interessant, letztlich aber doch
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