Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
vollmachten usw, ein Exzess traurigster Unsinnseinstellungen im Denken der Gesellschaft war die Folge der ursprünglich so hysterisch auf die Jahrtausendwende hinstürzenden Kollektiveuphorie. So schön, wenn auch falsch, diese Euphorie gewesen war, so scheußlich war der aggressiv muffig vorgeführte Kater der Beleidigten und angeblich Entrechteten danach, der jetzt die Stimmung regierte.
Holtrop analysierte die Lage, die ihn direkt betraf, weil er von diesen Leuten, die ihn anfangs so mitläuferisch bewundert hatten, heute genauso mitläuferisch abgeurteilt wurde, ähnlich skeptisch wie Bodenhausen, nur weniger gehässig, kälter. Der Menschenfänger in ihm nahm die Leute, wie sie waren: auf jeden Fall verblendet, meist verblödet, immer aber irgendwie zu packen. Eben dies war Idee und Plan der Schönhausenoffensive , die Holtrop sich beim Rückflug ausgedacht hatte. Seine Ideen legte Holtrop Seiters jetzt in wenigen wirren Sätzen dar. Seiters sollte daraus ein Papier erstellen, das den Offensiveplan zusammenfasste. »Um acht erwarte ich Ihren Vortrag«, sagte Holtrop. »Um acht«, wiederholte Seiters und beugte seinen Oberkörper nach vorn. Dann ging er weg. Holtrop bestellte Riethuys zu sich, dann Salger, aber beide waren noch in Berlin, er rief sie an: »Wo sind Sie? Ich brauche Sie!« Danach telefonierte er mit Schindt in New York. Schindt war schon informiert, dass nicht Holtrop am Mittwoch nach New York kommen würde, sondern er selbst, Schindt, nach Schönhausen zu kommen hatte. Im Gespräch mit Schindt machte Holtrop weiter Druck, keine Rede hier von gedrosseltem Tempo. »Wo stehen wir?« rief Holtrop.»Es schaut gut aus«, antwortete Schindt. »Das klingt nicht gut.« »Wir tun unser Bestes.« »Wie Sie es machen, ist mir egal.« »Natürlich«, sagte Schindt. »Optimismus war gestern«, rief Holtrop, »was ich erwarte, sind Ergebnisse. Grandiose Aussichten interessieren mich nicht, Herr Schindt, die Zeit der leeren Versprechungen ist vorbei.« »Natürlich«, sagte Schindt. Holtrop legte auf und fasste sich mit der Hand an den Hals, holte tief Luft, die Luft im Zimmer war schlecht. Holtrop ging ans Fenster, machte es auf und schaute wütend in den Nachmittag hinaus.
XIV
Es war Ende Februar, der Frühling kam, Holtrop rannte im Trainingsanzug frühmorgens durch die Wälder am südlichen Rand von Schönhausen und über freie Felder auf die Konzernzentrale von Assperg zu. Holtrop hatte sich Anwesenheitspflicht in Schönhausen verordnet und die Mitarbeiter seines Stabs auf den allerneuesten neuen Kurs eingeschworen: »Wir müssen die Schlagzahl verdoppeln!«, Tempo drosseln war gestern gewesen. Jeden Morgen war er zwischen halb sieben und sieben Uhr am Laufen, die Gedanken ordneten sich, der Tag ging vor ihm auf, in der Senke lag dichter Dunst über dem Tümpel, um den herum die Gebäude der Hauptverwaltung aufgestellt waren, zwei- und dreistöckige Flachbauten im Stahlrohrstil der späten siebziger Jahre. Holtrop rannte in den Nebel hinein, in die Senke hinunter und umkurvte, pumpend, schnaubend, von Energie durchpulst, noch einige Male den Tümpel, bevor er den Weg hoch zum Zentralbau nahm, ein Licht brannte dort schon, in seinem Büro, er lief in das Gebäude hinein, sprang drei Treppenstufen auf einmal hochund rannte im zweiten Stock durch seinen Bürotrakt ganz nach hinten durch, wo er in der Waschkabine der Toilette, Kleider runter, Türe zu, für Momente des totalen Glücks unter der heißen Dusche stand. Das heiße Wasser prasselte auf seinen vom Laufen erhitzten Körper nieder, dann drehte Holtrop das Wasser auf kalt. »Ah, herrlich!« dachte er. Raus aus der Dusche, rein in den Anzug. Kurz darauf saß Holtrop an seinem Schreibtisch und donnerte die ersten offiziellen Mails dieses Bürotags in die Welt hinaus.
Ein angenehmer Chef war Holtrop nicht, das wussten alle. Es war ihm eine Freude, die Mitarbeiter seiner nahesten Umgebung, die in den Zimmern um ihn herum saßen, dauernd mit irgendwelchen hyperpräzisistischen Anfragen, Nachfragen, Aufforderungen oder Zurückstoßungen wie »Unsinn!« schriftlich zu belästigen, so wollte er Sachkunde demonstrieren, Interesse am Detail, hohe Geschwindigkeit des Reagierens auf jede Mitteilung, und er bremste sich dabei auch nicht, wenn der Ton seiner Mails barsch oder giftig wurde, weil er darin einen zulässigen Ausdruck seiner eigenen Geistesschärfe und Ungeduld sah, die er den Untergebenen außerdem als vorbildliche Einstellungen zur Arbeit vorhalten
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