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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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nicht angenehm war. Es war nicht die übliche Anspannung, die er sonst bei den Leuten, die wussten, wer er war, als Chef hervorrief, es war etwas anderes, Unangenehmes. Keiner der Leute dort, die in kleinen isolierten Gruppen dastanden, schaute zu Holtrop und Leffers, die auf sie zugingen, hin. Irgendwann war klar, dass die Leute, die Holtrop und Leffers gesehen haben mussten, die beiden aktiv ignorierten, mehr noch, einander zu zeigen versuchten, dass sie Asspergchef Holtrop und seinen Protegé Leffers zu ignorieren sich trauten. Holtrop war plötzlich klar, was er da spürte: Feindseligkeit, völlig offen vorgetragen. »Interessant«, dachte Holtrop. Was war das genau, was ihm da von seinen eigenen Asspergianern her entgegenkam? Ärger, Zorn, Wut, so etwas hatte Holtrop noch nicht erlebt. Er wechselte einen Blick mit Leffers und ging grußlos ganz nach vorn, wo die Gruppe der Schönhausener Hauptverwaltungsleute zusammenstand, auch die Vorstände, die Holtrop eben noch im Flugzeug so aggressiv ignoriert hatte. Jetzt haute Holtrop dem großen Sandsack Uhl auf den dicken Rücken und sagte gutgelaunt, als sähe er ihn am heutigen Tag gerade eben zum ersten Mal: »Ab heute wieder Saftkur, Uhl, Obst und stilles Wasser, was!?« Uhl drehte sich langsam zu Holtrop um und schaute ihn an, ohne etwas zu sagen.
    In dem Moment kam der Mensch mit der Urne aus dem Türschlund in der Betonwand heraus. Die Trauergesellschaft formierte sich und ging stumm hinter dem in derUrne befindlichen, verstorbenen und verbrannten Rest Thewes her. Die Gruppe Hauptverwaltung ging als zweite Gruppe, davor gingen die näheren Freunde, von Familie war nichts zu sehen, dahinter ging die Gruppe Krölpa. Die Vorwürfe, die Holtrop auf sich zog, kamen jetzt von allen Seiten. Holtrop ging hier als der am Tod Thewes Hauptschuldige hinter dem Toten her, das war die ihm überdeutlich mitgeteilte Überzeugung der versammelten Trauergesellschaft. Mit ausdruckslosem Gesicht nahm Holtrop den Schuldspruch hin. Ruhig setzte er Schritt vor Schritt. Dabei dachte er: »Die Welt ist wohl komplett verrückt geworden.« Im Hintergrund seines Denkens lief schon ein Konsequenzendetektorprogramm, das Konsequenzalternativen, die sich für ihn aus der neuen Lage ergaben, errechnete.

XIII
    »Wir müssen das Tempo drosseln«, dachte Holtrop, das war das Ergebnis seiner Überlegungen, während er in quälender Langsamkeit als Teil der Trauergesellschaft, in der er gefangen war und von der er beschuldigt wurde, für den Tod von Thewe verantwortlich zu sein, Schritt für Schritt hinter der grau gemaserten Thewe-Urne hinterher den nicht so sehr langen, aber sehr viel Zeit verbrauchenden Weg zur Totenmauer hin mitgegangen war. Der tote Thewe war für die Leute plötzlich Ikone und Inbild des Guten, ganz anders als der lebende, jetzt im Nachhinein stand er für das gute alte Assperg, das von den Asspergianern früher jahrelang verachtet und gehasst worden war. Die Leute hatten das Tempo geliebt, heute hassten sie es. Das Tempo, das Holtrop der ganzen Firma vorgegeben hatte,wofür er gefeiert worden war, war jahrelang der Aufbruch gewesen für alle, heute bedeutete Tempo für alle nur noch: Überforderung, Abmahnung, Entlassung.
    Der Schwarzuniformierte war mit der Urne an der für Thewe vorgesehenen Stelle in der Totenwand angekommen. Ein dunkelgrüner Tannenzweigekranz lag davor am Boden, in Hüfthöhe war das für Thewe vorgesehene Loch offen. Schweigend rückten die Leute in eine Halbkreisformation um das Urnengrab herum ein. Kein Lied, kein Gebet, keine Rede. Durch die große Zahl der Menschen, die alle nicht wussten, was als nächstes passieren würde, hatte das Schweigen etwas Wartendes, Hoffendes, bald aber wurde es immer bedrückter. Und in dieses Schweigen hinein verneigte sich der Urnenmann auf steife, sinnlose Art vor dem Loch in der Betonmauer, dann vor der von ihm selbst gehaltenen Urne, einige Trauergäste verneigten sich auch, und dann wurde die Urne mit Thewes Asche in das erstaunlich kleine, tiefliegende, kaum schließfachgroße Loch in der Betonwand gestellt. Nicht einmal zu einem Schließfach auf Kopfhöhe hatte es gereicht für Thewe. Mit einer vom Boden aufgehobenen Steinplatte, einer Art mattgrau betonierten Küchenfliese, die der Uniformierte leicht andrückte, wodurch ein Mechanismus einrastete, verschloss er das Grab, fertig. Dann ging der Mann gesenkten Blickes von der Totenmauer weg, alle warteten, was jetzt passieren würde, aber der Mann ging einfach

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