Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
unbeschreiblich öde und langweilig, sinnlos und unwichtig, so dass es Holtrop einfach nicht gelingen wollte, seinen Geist in ganzer Schärfe darauf einzufokussieren. Die Frage der Bilanz war doch immer schon die allereinfachste: Machen wir Gewinn? Oder Verlust? Er sah die Stapel der Papiere mit dem Stempel BPK , Bilanzpressekonferenz, blätterte hinein und drehte den Kopf genervt zur Seite. Diese Papiere, die er sich in diesem Frühjahr endlich einmal alle vorlegen ließ, weil er das so wollte, weil er gehofft hatte, dadurch tiefer einzusteigen in die Sache, die Misere, die Materie, ins Problem, um so endlich besser erkennen zu können, woran konkret es fehlte usw, kotzten ihn, wenn er sie jetzt so direkt und konkret vor sich sah, noch mehr an als das Erscheinen von Frau Rösler, die ihn mit ihrer gutgelaunten Zugewendetheit folterte. Das Leben fühlte sich plötzlich insgesamt falsch an, ungewohnt unschön, »Hölle«, dachte er heftig, um die Wut wegzustoßen. Verärgert stand er auf und ging in seinem Zimmer hin und her. Draußen war es hell geworden.
Dann stand Dirlmeier da und redete, kleine Morgenlage zu sechst, neun Uhr, Dirlmeier hatte als erster das Wort. Als der unbrauchbarste seiner Mitarbeiter hatte sich in diesen ersten Wochen in der Schönhausener Hauptverwaltung Holtrops persönlicher Referent Dirlmeier herausgestellt. Dirlmeier hatte einen Sprechzettel in der Hand, den er lange anschaute, dann referierte er die Termine der Woche und des heutigen Tages. Beim Referieren redete er sich langsam Boden unter die Füße, dann wieder Blick auf den Sprechzettel. Wieder dehnte sich die Zeit. Und eine sinnlose Stille, die einfach nur das Referat des Pressespiegels, den sowieso alle schon kannten, vorbereitende Stille breitete sich zwischen den Beteiligten der Morgenlage aus. Holtrop bekam fast keine Luft mehr vor Ungeduld. Dirlmeier schaute ihn an. Noch mehr Zeit verging, in der Dirlmeier so tat, als müsse er jetzt zu erschließen versuchen, ob Holtrop ihm eventuell etwas Tadelndes signalisiert habe, und wenn ja, was genau. Es war die reale Folter des ganz normalen Bürolebens, das Holtrop immer schon gehasst, verachtet und tatsächlich lebenslang gemieden hatte. Er hatte sich diesen tödlichen Zeitvergeudungen, die alle so liebten, weil dann überhaupt nichts anderes mehr geschehen musste und außerbüroliche Wirklichkeiten in das Büroleben kaum noch eindringen konnten, immer entzogen, nur so hatte er seine allen verdächtige Blitzkarriere genau so, wie er sie gemacht hatte, machen können. Dirlmeier drehte sich zu den Kollegen, und Riethuys, Salger, Flath und Frau Rösler schauten wartend vor sich hin.
Dirlmeier hatte ein rundes, leeres, freundliches Gesicht. Er war 38 , er war entspannt und kannte seine Rechte, Bürokrat, leicht vorgealtert, ovale randlose Standardbrille. Die totale Standardisiertheit des Büromenschen Dirlmeier kam Holtrop in dem Augenblick zum ersten Mal komplett idiotisch vor. Dirlmeier hatte die Stelle als persönlicher Referent schon seit Mitte der 90 er Jahre, als Holtrop zum Vorstand Utopia, konkret für Multimedia und die Entwicklung neuer Geschäftsfelder, in die Hauptverwaltung nach Schönhausen berufen worden war, und er hatte den Job damals bekommen, weil er nicht so penetrant karrieristisch gewirkt hatte wie andere Aspiranten, aber gut sortiert und kompetent. Betriebswirtschaftler, ordentliche Noten, Zeugnisse, Holtrop außerdem empfohlen von einem seiner ehemaligen Professoren in Speyer. An freundlichen Bemerkungen über Holtrops Pläne im Multimediabereich hatte es Dirlmeier anfangs nicht fehlen lassen, man hätte das als Schmeicheleien abtun können, aber Holtrop störte sich nicht daran. Trotzkopf und Heißsporn war er selbst. Er suchte nicht nach jemandem, der ihn aggressiv forderte, so wie er selbst andere. Zu Beginn seiner eigenen Laufbahn war er als Vorstandsassistent natürlich eine brillante Nervensäge gewesen, hatte dann aber, selbst in Verantwortung gekommen, nach jemandem gesucht, der genau anders war als er selbst, damit er möglichst unmerklich von dem entlastet werden würde. Und Dirlmeier funktionierte genau so, Holtrop war erstaunt, wie gut das funktionierte. Dirlmeier organisierte die Schnittstelle von privatem, betrieblichem und öffentlichem Holtrop, das hatte viel mit Holtrops Familie zu tun, den Freunden und Bekannten, mit Veranstaltungen und Aktivitäten, für die es Zutritt, Backstagebändchen oder Karten zu beschaffen galt, ein Fußballspiel hier,
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