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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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musste Holtrop jetzt dauernd denken.
    Mitten im Satz unterbrach Holtrop Dirlmeiers Vortrag. »Wunderbar«, sagte Holtrop, »vielen Dank, Herr Dirlmeier. Wir treffen uns in großer Runde nachher um halb elf. Sie!«, dabei zeigte er auf Dirlmeier, »kommen bitte um fünf vor halb zu mir. Danke.« Damit war die kleine Lagebeendet, der Stab entlassen. Das Zimmer vergrößerte sich durch das Hinausgehen der Menschen, ein angenehmer Effekt. Holtrop stand auf, ging ein paar Schritte und setzte sich wieder. Dann ließ er seine Personalerin Frau von Schroer und Jungjustitiar Nolte kommen. Holtrop erklärte, er brauche Antwort auf die Frage, wie bei der von ihm geplanten Entfernung des Dirlmeier organisatorisch zu verfahren sei, arbeitsrechtlich einwandfrei, selbstverständlich menschlich fair, wenn auch im Ergebnis möglichst fristlos. Er sagte, er erwarte kurze Einschätzungen beider bis um zehn. »Dankeschön.«

XVI
    Das Gefühl, mit großen Schritten voranzuschreiten, erfüllte Holtrop in der nächsten halben Stunde. Um viertel nach zehn kamen die Dirlmeier betreffenden Papiere bei Frau Rösler an. Sie ging sofort zu Holtrop ins Zimmer und übergab ihm die Papiere. Holtrop schaute auf die Papiere, dann hoch zu Frau Rösler und sagte mit überlauter Stimme: »Riethuys bitte!« »Selbstverständlich«, antwortete Frau Rösler und ging hinaus, um Riethuys zu holen. Holtrop lehnte sich zurück, wartete und schaute auf die Türe. Das Warten dauerte ihm wieder zu lange. Plötzlich wurde sein Hirn aber von Wohlbehagen und Zuversicht durchweht. Der morgendliche Gedanke, den er beim Laufen gehabt hatte, kam ihm wieder in den Sinn: »Es ist egal.« Es ist egal, wie es ausgeht. Es war dies keine zenartige Gelassenheit, sondern ein kühler, realistischer Bilanzgedanke. Wenn es so sein sollte, dass sie ihn alle hier weghaben wollten, gut: dann geht er eben. »Umso besser!« dachte Holtrop. Holtrop hatte eine sehr gute Zeit gehabt bei Assperg, abersie musste auch nicht unbedingt endlos lange weitergehen. Es gab auch andere Aufgaben für ihn, an anderen Orten der Welt als Schönhausen. »Weg von hier!« dachte er euphorisch. Dirlmeier kann bleiben. »Ohne mich!« Der Gedanke bekam rauschhafte Qualität. Dirlmeier muss nicht entlassen werden. »Nein!« dachte Holtrop. Wenningrode, Schnur, Kate Assperg und die ganze Schönhausener Gesellschaft würde bleiben, was sie ist, die Hölle, und nur er wäre weg. »Genau!« Der klaustrophobisch übersichtlich geordnete Höllenkosmos Schönhausen, der für Holtrop nach nur einer Woche in Schönhausen schon kaum mehr zu ertragen war, würde an seiner eigenen Enge in aller Ruhe ersticken und endgültig verrotten können, aber ihm wäre das egal, er hätte damit nichts mehr zu tun, er wäre fort von hier für immer.
    Holtrop sah ein Zittern, das vom Türstock auf die Wände überging, auch diese Wände wären weg für immer. Das wäre herrlich. Er wäre frei. Da öffnete sich die Türe, Riethuys trat ein. Seine Stirn leuchtete. »Da bin ich«, sagte er. Die Aversion, die Riethuys in Holtrop erweckte, war Holtrop vertraut. Riethuys war der perfekte Angestellte, die Effektivität des Angestellten im Extrem. Er war realerweise das, was Holtrop im Blendermodus zu sein vorgab: informiert, schnell, klar entschieden. So kam er jetzt auch ins Zimmer herein, gutgelaunt, sein Auftritt bewirkte einen Aktivitätsschub in Holtrop. Holtrop stand auf. Riethuys trat näher. Er war agil, schmal, 40 Jahre alt, er hatte eine professionalisiert gemäßigte Mimik im Gesicht, die nie zu viel, nie zu wenig Ausdruck zeigte, und darüber einen ungewöhnlich früh erkahlten Kopf. Riethuys lächelte. Der Sieger fühlt sich gedrängt, den ihm Vorgesetzten um Nachsicht dafür zu bitten, dass er so viel wohltemperierten Siegercharme ausstrahlt, sagte dieses Lächeln und umfasste dabei alles, das Sieghafte, den Charme, die sich höflich unterwerfende Bitte um Nachsicht, Holtrops Ehre und Riethuys’ Triumph darüber. Es war das Lächeln des Angestellten, des Unter, der sich den Zugang zum Ober, obwohl er sich ihm überlegen fühlt, von unten her erhalten muss, denn so ist der Weg faktisch vorgegeben von der Hierarchie. Holtrop hasste dieses Lächeln, das ihm täglich von so vielen Menschen entgegenkam, das Untertanengift, das den Geist im Chef abtötete. Lächelnd machte Riethuys, bevor er zu reden anfing, eine bahnende, sich erklärende Bewegung der Hand, und seine exquisite Uhr blitzte grell hervor.
    Riethuys sprach sich gegen

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