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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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weg, zurück in Richtung Krematoriumshauptgebäude.
    Und Holtrop konnte nicht anders, als auf der Grabplatte die bekannten Worte »wieder einer weniger« zu lesen und fröhlich ergrimmt zu denken: »der ist also aufgeräumt«. Der Gedanke »sehr gut!« erfüllte ihn dabei so sehr, dass er sofort weggehen wollte. Er wollte die hier in verlogener oder auch völlig wahrhaftiger Ergriffenheit und Trauer dastehenden Asspergianer nicht noch mehr provozieren. Er tat ein paar Schritte zur Seite, sein Telefon in der Hand, telefonierte mit seinem Büro, und als er sich weit genug von allen entfernt hatte, nahm er entschlossen den polnischen Abgang hintenherum, abschiedslos. Von hinten aus schaute der Krematoriumskomplex mit seinen verzinkten Rohren und Ökoschloten endgültig wie eine nicht ganz normale, bemüht ansakralisierte und darüber verrückt gewordene Müllverbrennungsanlage aus. Dann saß Holtrop im Taxi nach Tegel, nahm die nächste Maschine nach Dortmund und von Dortmund wieder den Miethubschrauber zurück nach Schönhausen.
    Um kurz vor vier stürmte er, während halb Assperg in Berlin noch beim Totenschmaus zu Ehren von Thewe saß, in der Schönhausener Hauptverwaltung zum allgemeinen Erstaunen der dortigen Mitarbeiter durch die Räume seines CEO -Headquarters, auf der Suche nach Seiters: »Seiters!« rief Holtrop, »wo sind Sie denn?« Als Seiters halb verschlafen aus seinem Büroschlafloch hervorgekrochen kam, wo er die Angestelltenstunden nachmittags normalerweise, hauptsächlich diffus beleidigt darüber, dass ihm hier sein Leben gestohlen wurde, abtrödelte, Unfreude im Blick und die angestelltennotorische Mischung aus Indolenz und Angst, Vorgesetztenangst und Untertanenindolenz, meinte Holtrop zu ihm: »Geht es Ihnen zu schnell, Herr Seiters?« »Überhaupt nicht. Warum?« »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Seiters.« Durch Weglassen des »Herr« vor Seiters’ Namen signalisierte Holtrop Wohlwollen. Seiters war erleichtert, Holtrop hatte gute Laune. »Ich bin bereit«, sagte Seiters, »was befehlen Sie?« Dabei hängte Seiters sein fülliges Walrossgesicht mit dem ergrauten Aktivistenschnauzer, zu einem freundlichen Lächeln verzogen, etwas zu devot vor Holtrop hin. »Wir müssen das Tempo drosseln«, sagte Holtrop, und Seiters nickte zustimmend, ohne zu wissen, wovon Holtrop redete.
    Seiters war früher Holtrop-Fan gewesen, in den ersten Holtropjahren hatte er, wie die meisten Asspergianer, Holtrop als Tempomacher und Lichtgestalt verehrt, Holtrop war speziell beliebt gewesen beim Typus Seiters, bei den kleineren und mittleren Angestellten des unteren und mittleren Mittelbaus, die für Holtrops maßlose Zukunftsparolen am empfänglichsten gewesen waren, nicht aus einer besonders ausgeprägten eigenen Neigung zu Mobilität und Risiko, im Gegenteil, aus vorsichtiger Orientierung am Nebenmann und der unterwürfig entschiedenen Bereitschaft, die kollektiven Haltungen, die sich aus diesen gegenseitigen Nebenmannorientierungen zwingend ergeben hatten, mitzutragen, den so entstandenen Weg mitgehen zu wollen, aus eigener freier Entscheidung, das Mitgehen, Mitlaufen, das Mitläufertum aus der das ganze Leben beherrschenden Grundangst, irgendetwas zu verpassen, woran alle anderen beteiligt sind, und Holtrops Zukunftsirrsinn war nichts anderes gewesen als eben dies, der Zug der Zeit, getragen von genau diesen vom Kollektiv geknechteten Kollektivmitläufertypen. Das riesige Heer der von Bodenhausen mit besonderer Begeisterung beschimpften Telekomaktienkäufer, dieser Typus Mensch, man kann auch sagen: der konstitutionelle Herdenmensch, war Kernmitglied von Holtrops treuester Fanbasis innerhalb der Firma Assperg gewesen. Nun aber war der Zug der Zeit weiter und woandershin gezogen, die unschöne Gier der Telekomaktienkäufer war in ein noch unschöneres Beleidigtsein übergegangen, für eigene Blödheit vom Leben auch noch bestraft zu werden, das fanden diese Leute jetzt plötzlich allesamt empörend, eine Ungerechtigkeit der Welt, gegen die sie am liebsten geklagt hätten und bis nach Karlsruhe gegangen wären, um sich Schadensersatz dafür zu erstreiten, dass ihre Weltsicht der Geldgier, obwohl kollektiv so angstvoll abgesichert, falsch war im Effekt,Dummheit aller, allgemein gelebte Idiotie. Und plötzlich waren es jetzt auch wieder die vermuteten und sogenannten Machenschaften derer da oben, die sich an ihnen, den sprichwörtlichen kleinen Leuten, bereicherten, sich die berühmten, von Wonka sogenannten Taschen

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