John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
aber bei der Arbeit. Oder sie wurden von Männern zu Cocktailpartys eingeladen, die noch nie verheiratet gewesen und vermutlich verkappte Schwule waren. Nur eines bekamen sie nicht: echte Dates mit geschiedenen Männern ihres Alters. Sofern diese Männer nicht weiterem Kindersegen aus dem Weg gehen wollten, suchten sie sich lieber eine Frau, die zumindest ein Jahrzehnt jünger war.
»Versuch nicht, dich herauszureden. Wie war dein Date?«, hakte Gretchen nach.
Üblicherweise unterwarf sich Exley derartigen Befragungen widerstandslos, wenn sie auch insgeheim wünschte, dass sie weniger Zeit damit verbrächten, über Männer zu reden. Welchen Sinn ergab das, wenn sich ohnehin nichts änderte? Heute Abend waren Gretchens Fragen gar nicht nach ihrem Geschmack. Sie wollte bloß ruhig sitzen und ihren Wein trinken.
»Es muss gut gewesen sein«, sagte Ann. »Denn du siehst müde aus.«
»Lasst sie in Ruhe«, meldete sich Lynette. »Oder gebt ihr wenigstens Zeit, bis sie ihren Wein ausgetrunken hat.«
Im Geist hatte Exley den Anruf von Wells Hunderte Male abgespielt. Sie hatte auch die Nummer zurückverfolgt, die zu einem Mobiltelefon gehörte, das über das Fernmeldeamt in Nashville lief. Somit konnte der Anruf von jedem beliebigen Ort erfolgt sein. Selbstverständlich hätte sie einen Freund beim FBI ersuchen können, das Signal zurückzuverfolgen. Aber sie war nicht sicher, ob sie diesen Schritt setzen wollte.
Zudem hatte sie niemandem in der CIA, und nicht einmal Shafer, von dem Anruf erzählt, weil sie befürchtete, dadurch die Kontrolle zu verlieren. Mit Sicherheit würde man dann ihr Telefon anzapfen und ihr Apartment überwachen. Immerhin war Wells ein Flüchtling. Ohne das FBI zu informieren, und obwohl die Statuten der CIA einen Einsatz auf amerikanischem Grund und Boden ausdrücklich verboten, hatte Duto einige seiner Hohlköpfe darauf angesetzt, Wells in den USA aufzuspüren. Irgendwie war es Duto gelungen, seine Berater davon zu überzeugen, dass die CIA Wells im Rahmen einer Ausnahmeregelung zu den Statuten suchen durfte, die beschränkte Ermittlungen im Fall interner Sicherheitslücken gestattete.
Exley vermutete, dass die Suchaktion nach Wells nur als Rückendeckung für Duto diente, für den Fall, dass Wells etwas zustieß, und dass sie lediglich in begrenztem Ausmaß und oberflächlich erfolgte. Duto betrachtete Wells nicht wirklich als Bedrohung. Vermutlich war er sogar glücklich darüber, dass Wells frei umherlief. Auf diese Weise würde er Anerkennung erhalten für den unwahrscheinlichen Fall, dass Wells tatsächlich einen Anschlag verhinderte, und er war imstande, Shafer die Schuld zuzuweisen, sollte Wells etwas vermasseln oder gar getötet werden. Allerdings waren dies alles nur Vermutungen, denn Duto weigerte sich, ihr oder Shafer Einzelheiten über die Suchaktion mitzuteilen, befahl ihr aber
gleichzeitig, ihm sofort Bericht zu erstatten, falls Wells sie kontaktierte.
»Ich will persönlich informiert werden«, hatte er gesagt. »Haben Sie mich verstanden, Jennifer?«
Eine direkte Anordnung von Vinny Duto zu missachten, war keine gute Idee. Aber das war Exley einerlei. Sie war überzeugt, dass Wells nicht übergelaufen war, und sie wollte ihn, so gut sie konnte, beschützen, damit er nicht in irgendeine Zelle gesteckt wurde. Wenn er etwas Wichtiges herausfand, würde er sich melden.
Mittlerweile hätte sie gern gewusst, wo er sich aufhielt, was er tat, und was er von den Spielchen der CIA hielt. Was dachte er nach so vielen Jahren in der Fremde über die USA? Und was über sie? Dachte er in derselben Weise an sie, wie sie an ihn? Er war ständig in ihren Gedanken, und nach seinem Anruf glaubte sie zu wissen, dass er ebenso fühlte. Aber sie konnte nicht sicher sein. Vielleicht hatte er sich nur bei ihr gemeldet, weil er niemand anderen anrufen konnte. Nachdem sie aufgelegt hatte, stellte sie verwundert fest, dass sein Anruf sie in keiner Weise überrascht hatte. In ihrem Unterbewusstsein hatte sie ihn erwartet.
Ihr unermessliches Verlangen nach Wells verwirrte sie. Als grundsätzlich logisch handelnder Mensch hatte sie sich in einen Mann verliebt, den sie in den letzten zehn Jahren nur zwei Wochen lang gesehen hatte, und der vermutlich in den Hügeln Afghanistans seinen Verstand verloren hatte. Im Jeep hatte er jedoch nicht verrückt gewirkt; seine braunen Augen waren vollkommen ruhig gewesen. Auf jeden Fall war er mit niemandem zu vergleichen, den sie in ihrem bisherigen Leben kennen
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