John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
gelernt hatte.
In zynischeren Augenblicken fragte sie sich, ob sie sich nicht in einer Fluchtphantasie verlor. Ob sie nicht von einem
starken schweigsamen Mann träumte, der sie einfach mitnahm. Wenn er zusätzlich ein Abtrünniger war, umso besser. Am liebsten hätte sie den Sophisticated Ladies davon erzählt. Sie würden die Ironie ihrer Lage zu schätzen wissen. Immerhin hatte sie sich immer damit gebrüstet, im Büro keine Gefühle aufkommen zu lassen. Frauen wurden ohnehin allzu leicht als Heulsusen gebrandmarkt, denen man nicht vertrauen konnte, wenn sie unter Druck standen. Selbst während ihrer Scheidung hatte nur Shafer gewusst, wie tief sie verletzt war. Jetzt hatte sie all ihre Regeln für einen Mann über Bord geworfen, den sie vermutlich nie wiedersehen würde. Wenn nicht so viel auf dem Spiel stünde, hätte sie über sich selbst gelacht.
Vorerst hatte sie beschlossen, den Anruf als Traum zu betrachten. Auf diese Weise musste sie nicht davon berichten.
Als Gretchen sie leicht an der Schulter anstieß, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. »Komm schon, Jennifer. Erzähle es uns.«
In Ordnung. Sie würde ihnen von ihrem Date erzählen. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Er heißt Charles Li, ist Kardiologe in Georgetown, geschieden, und wir sind letzte Woche ausgegangen.«
»Wohin?«
»Ins Olives.«
»Sehr hübsch.«
Und so vorhersagbar, dachte Exley. Das Olives war ein überteuertes Restaurant an der Kreuzung von 16th und K mit einem berühmten Chefkoch und einer erlesenen Weinkarte. Wells hätte sie vermutlich nie ins Olives eingeladen.
»Und … wie ist es gelaufen?«
»Ganz gut. Ich habe eine Menge über Gefäßprothesen erfahren und über Lipitor. Ihr solltet wirklich eure Cholesterinwerte
prüfen lassen. Habt ihr gewusst, dass mehr Frauen an Herzerkrankungen sterben als an jeder anderen Krankheit, einschließlich Brustkrebs?«
Lynette schüttelte den Kopf. »War es wirklich so schlimm?«
»Sagen wir, ich kam kaum dazu, ein Wort einzuwerfen.«
»Du weißt doch, dass man Männer beim ersten Date über sich selbst reden lassen muss«, sagte Gretchen. »Hat er wieder angerufen?«
»O ja!« Er hatte angerufen, Blumen geschickt und wieder angerufen. Dr. Li war beharrlich. Immerhin so beharrlich, dass sie überlegt hatte, ihm eine weitere Chance zu geben, trotz seines Schmerbauchs und seiner quer über die Glatze gekämmten Haare. Zumindest gab sich der gute Doktor Mühe.
»Nun, das ist schon etwas …«, sagte Gretchen, als Exleys Mobiltelefon läutete. Rasch klappte sie es auf.
»Packen Sie ein paar Sachen für warmes Wetter, und kommen Sie rein«, erklang Shafers Stimme. Klick.
Sie war glücklich, dass ihr der Anruf Gelegenheit bot zu gehen. Kaum eine Stunde, nachdem sie sich hastig verabschiedet hatte, traf sie in Langley ein. Shafer saß mit einem Koffer zu seinen Füßen auf ihrem Schreibtisch.
»Was hat Sie so lang aufgehalten?«
»Ellis, ich habe einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt, um hierherzukommen.«
»Ich habe einen besonderen Leckerbissen für Sie. Kommen Sie.« Bei diesen Worten griff er nach seinem Koffer und spazierte aus ihrem Büro hinaus, sodass ihr nichts übrig blieb, als ihm zu folgen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die den Verstand verlor.
In seinen besten Zeiten war Shafer ein unsicherer Fahrer. In dieser Nacht schleuderte er von Fahrspur zu Fahrspur, trat hemmungslos das Gaspedal durch und fuhr bis auf wenige Zentimeter auf jeden Wagen vor ihm auf, während sie erst in südlicher Richtung und dann in östlicher über die Ringautobahn zur Andrews Air Force Base rasten.
»Wohin fahren wir, Ellis?«
»Sie sind Analytikerin. Analysieren Sie die Situation.«
Ihr Gesicht rötete sich vor Ärger. Shafer musste nervös sein. Üblicherweise benahm er sich nicht so kindisch. »Ellis. Das ist kein Schulausflug.«
»Ruhig Blut.«
»In Ordnung«, sagte sie. »So wie es aussieht, fahren wir nach Andrews. Und Sie sagten, dass ich für warmes Wetter packen soll. Deshalb tippe ich auf Gitmo.«
»Guantanamo?«, wehrte Shafer lachend ab. »Ach kommen Sie, dorthin führt doch nur die Reportertour. Glauben Sie wirklich, dass wir da noch jemanden haben, der wichtig ist?«
»Wohin dann?«
»Ganz weit weg.«
»Kuwait? Oman?«
»An einen Ort, der nicht existiert.«
»Diego Garcia!«
»Richtig!«
Diego Garcia war ein amerikanischer Flottenstützpunkt auf einer britischen Insel im Indischen Ozean, etwa 1600 Kilometer von der Südspitze Indiens
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