John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
er auch gleich am Westufer hätte bleiben können, lächelte er in sich hinein. Nun. Diese Abkürzung würde er sich für das nächste Mal merken, wenn ihn Khadri von Atlanta nach Montreal schickte, um ein geheimnisvolles Paket abzuholen.
Im Norden wurden die Abstände zwischen den einzelnen Ausfahrten immer größer. Die Augen reibend, kämpfte Wells gegen die Versuchung an, schneller zu fahren. Nach Albany war der Highway gespenstisch leer, wie in einer postapokalyptischen Vision. Schließlich schaltete Wells das Radio des Rangers ein, um die Leere zu füllen. Lächelnd fand er auf einem leisen FM-Sender einen alten Springsteen-Song:
I’ve got my finger on the trigger
Tonight faith just ain’t enough
Während er Kilometer um Kilometer zurücklegte, verschlechterte sich der Empfang. Als Wells die Stimmen kaum noch hörte, drehte er das Radio ab und fuhr in Stille weiter.
Als die Sonne aufging, lagen die Adirondacks vor ihm, ein niedriges Berggebiet, das von dichten Wäldern bedeckt war, wie er sie aus seinen Jahren in Dartmouth kannte. Im Januar würde es in diesen Hügeln so kalt und grausam sein wie auf den 3300 Meter hohen Bergen Montanas. Jetzt wirkten sie sanft und leicht zu bewältigen. Wie so vieles auf dieser Welt waren sie jedoch eine Falle für Unvorsichtige. Etwa 160 Kilometer südlich der Grenze fuhr Wells in Chestertown vom Highway ab und fand ein namenloses Motel, dessen rote Neonschrift ›Zimmer frei‹ verkündete. Er war gut vorangekommen und wollte noch ein wenig schlafen, ehe er die Grenze passierte. Nachdem er ein Zimmer für vier Tage im Vorhinein bezahlt hatte, ließ er sich auf das Bett fallen und schlief drei Stunden lang traumlos, bis ihn der Alarm weckte. Sobald er geduscht, sich rasiert und sich angezogen hatte, stopfte er die Tasche mit der 45er in den billigen Holzschreibtisch seines Zimmers.
Auf dem Weg hinaus hängte er das BITTE NICHT STÖREN-Schild an die Tür. Bis er zurückkam, würde die Waffe sicher sein. Denn selbst wenn das Zimmermädchen hineinsah, würde sie kaum mehr tun, als die Handtücher zu wechseln.
Hinter Champlain, der letzten Ausfahrt auf der I-87 vor der amerikanisch-kanadischen Grenze, teilte sich der Highway. Während Wells vor dem Grenzposten das Tempo drosselte, sah er auf die Uhr: 11:15 Uhr. An dem klaren blauen Himmel schien die Sonne und versprach einen herrlichen, warmen Septembertag als Erinnerung, dass der Sommer noch nicht ganz vorüber war. Er fühlte sich frisch, stark und bereit.
An der kanadischen Grenze benötigt man keinen Reisepass, deshalb gab Wells dem Grenzbeamten seinen Führerschein.
Dieser warf erst einen kurzen Blick auf das Dokument und dann auf ihn. »Sie kommen aus Georgia? Das ist aber eine lange Fahrt.«
»Wem sagen Sie das?«
»Reisen Sie aus beruflichen Gründen, oder zum Vergnügen? «
»Zum Vergnügen, hoffe ich«, gab Wells grinsend zurück. »Ich treffe mich mit einer Frau, mit der ich seit einiger Zeit in E-Mail-Kontakt stehe. Sie heißt Jennifer. In Quebec City. Ich kann nur hoffen, dass sie wirklich so hübsch ist wie auf den Fotos, die sie mir geschickt hat.«
Der Beamte nickte. »Wie lange werden Sie bleiben?«
»Ein paar Tage. Das hängt ganz davon ab, wie es läuft.«
»Haben Sie ein Hotel?«
»Ich hoffe, dass ich keines brauche.«
»Na, dann viel Glück. Und viel Vergnügen«, sagte der Grenzbeamte, während er Wells den Führerschein zurückgab und ihn durchwinkte.
Als Wells den Ranger über die Champlain Bridge lenkte, die über den Saint Lawrence River führte, und vor ihm die Wolkenkratzer im Zentrum von Montreal immer näher kamen, läutete sein Mobiltelefon, und er hob ab. »Nam.«
»Hier ist Richard«, meldete sich ein Mann mit bebender Stimme. Aber er hatte den richtigen Namen genannt, den Khadri ihm per E-Mail angekündigt hatte.
»Karl«, gab Wells zurück.
»Ja. Gut. Sind Sie in der Nähe?« Wells konnte den Akzent nicht zuordnen.
»Ja.«
»Gut. Es gibt einen neuen Plan.«
Das überraschte ihn nicht.
Der Mann hustete leise. »Fahren Sie weiter bis Quebec City. An der Seite des Hôtel de Ville, des Rathauses, gibt es eine große Garage, um zu parken. Sie werden sie finden leicht. Um vier Uhr treffen Sie mich dort auf zweiter Etage. Ich habe einen weißen Minivan.«
Die Worte stimmten, aber die Sätze waren ein wenig seltsam. Englisch war offenbar nicht die Muttersprache des Mannes und nicht einmal seine zweite Sprache. »Ich werde sie finden. Ich fahre einen
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