John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
krank. Exley schloss die Augen.
»Ich weiß, dass Sie starke Schmerzen haben«, sagte die Ärztin, »aber wir müssen sehr vorsichtig sein mit der Dosis an Medikamenten, die wir Ihnen verabreichen. Wenn es wirklich zu schlimm wird, sagen Sie es uns. Sobald Sie sich besser fühlen, wartet eine ganze Menge Menschen auf Sie, um mit Ihnen zu sprechen und um sich zu bedanken. Aber versuchen Sie jetzt, ein wenig zu schlafen. Bitte.«
Der nächste Tag verging wie in einem Nebel. Während die Pflegerinnen ihre Medikation anpassten, erlangte Exley immer wieder das Bewusstsein, um es gleich wieder zu verlieren. Irgendwann brachte die Ärztin ihre Kinder und ihre Mutter ins Zimmer, und sobald sie sie sah, siegte die Freude über ihr Schamgefühl. Dennoch war sie froh, als sie wieder gingen. An ihren Gesichtern konnte sie ablesen, wie entsetzt sie waren, sie so zu sehen. Außerdem strengte es sie an, für sie zu lächeln. Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, verlor sie wieder das Bewusstsein.
Als sie das nächste Mal aufwachte, saß Shafer zusammengesunken neben ihrem Bett. »Ellis«, krächzte sie. Zum ersten Mal fühlte sie, wie ein wenig Energie in ihr aufflackerte, obwohl ihr Knie immer noch brannte, als hätte man es auseinandergerissen.
»Jennifer.« Zum ersten Mal schienen ihm die Worte zu fehlen. Mit ineinander verschränkten Händen lief er auf seinen spindeldürren Beinen im Raum auf und ab.
»Was ist geschehen? Sie wollen es mir nicht sagen.«
»Es war sehr knapp, aber Sie haben es geschafft, Jennifer«, sagte er. »Sie und Wells.«
»Was haben die damit gemeint, dass ich infiziert sein könnte?«
»Vermutlich sollte nicht ich es sein, der es Ihnen sagt, aber Wells hat Sie mit der Pest infiziert.«
Pest. Schon bei dem Wort krümmte sich Exleys Körper vor Schmerzen. Shafer rieb ihr die Schulter. »Es ist schon in Ordnung. Wir glauben, dass wir alle aufgespürt haben, die damit in Kontakt gekommen sind, hier und in Kanada.«
Kanada? Exley beschloss, nicht nachzufragen.
»Ich muss ihn sehen, Ellis.«
»Er ist in ziemlich schlechter Verfassung«, gab Shafer zurück. »Er war dem Virus wesentlich länger ausgesetzt als Sie, und außerdem hat man ihn in den Rücken geschossen.«
»Khadri hat ihn angeschossen?«
»Nein. Die Polizei.« Ein seltsames, schiefes Lächeln huschte über Shafers Gesicht. »Am Ende ist alles ein wenig durcheinandergelaufen, aber schließlich ist es gut ausgegangen. Unser Junge ist ein Held, und Sie genauso. Der Präsident kommt nächste Woche hierher. Inzwischen streift Duto das Lob ein, und ich lasse ihm die Freude.«
Als Shafer Dutos Namen erwähnte, flammte in Exley erneut Wut auf, aber sie erlosch so schnell, wie sie gekommen war. Sie war einfach zu müde. Shafer schien ihre Gedanken zu lesen. »Sparen Sie Ihre Energie, Jennifer. Wenn er es nicht ist, ist es ein anderer.«
»Er wird es doch schaffen, Ellis?« In ihrem verworrenen Geist stellte sie sich vor, ein Bein dafür einzutauschen, dass Wells am Leben blieb. Oder gleich beide Beine. Wer brauchte schon Beine?
»Ich werde Sie nicht belügen. Sie sagen, es steht fünfzig zu fünfzig. Aber das ist schon besser als gestern.«
Als sie sich am nächsten Morgen stärker fühlte, bat sie darum, dass man sie an sein Bett brachte. Sie rieten ihr davon ab, aber sie beharrte darauf. Schließlich rollte man sie in ihrem Bett in einen Raum, der von vier New Yorker Polizisten in blauer Ausgehuniform mit weißen Handschuhen bewacht wurde. Eine Ehrengarde.
Wells lag auf der Seite mit einem intravenösen Tropf im Arm, einer Sauerstoffmaske über der Nase und einem Katheder, der auf Hüfthöhe unter der Decke hervorlugte. Er war blass und eingefallen und atmete langsam. Das beständige Piepsen des Pulsmonitors und Oximeters über seinem Kopf beruhigte Exley jedoch.
»Ich weiß, dass er nicht gut aussieht, aber es geht ihm schon viel besser«, meinte Dr. Thompson. »Er hat auch schon versucht, etwas zu murmeln. Wir glauben, dass er heute das Bewusstsein wiedererlangen wird.«
Wells zuckte in seinem Bett zusammen und seufzte.
»Können Sie mich näher zu ihm schieben?«, fragte Exley.
Wells stand vor einem strahlend weißen Wolkenkratzer. Nie zuvor hatte er einen so großen Wolkenkratzer gesehen. Die mit Marmor verkleideten Wände schienen nie zu enden. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als hineinzugelangen, wenn er auch nicht wusste warum. Irgendetwas trieb ihn dazu, gegen das er nicht ankam. Außerdem war er viel
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