John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen dürfen in die Sperrzone. Wer sich sonst dort aufhält, wird verhaftet. Die Sperrzone wird begrenzt vom Santa Monica Freeway im Süden …«
Nachdem sie das Radio ausgeschaltet hatte, starrte sie auf den dunklen stillen Highway vor sich und fragte sich, aus welchem Grund jemand einen Anschlag auf Jugendliche verübte, die an diesem Freitagabend nur ausgehen wollten, um ein wenig Spaß zu haben. Sie fand keine Erklärung. Intellektuell verstand sie es selbstverständlich: immerhin wusste sie, was asymmetrische Konflikte waren und kannte die Beziehung zwischen Terroristen und gescheiterten Staaten und die finanziellen und religiösen Motive von Selbstmordattentätern. Im Grunde waren aber all diese Wörter so bedeutungslos, als würde man einen leeren Karton in Papier einpacken. Nichts rechtfertigte diese Bomben. Für sie waren diese Mörder Barbaren, die sie nicht einmal mehr als menschlich einstufen wollte.
In Langley musste niemand das Offensichtliche aussprechen: Der amerikanische Nachrichtendienst und die Vollzugsbehörden waren kläglich gescheitert. Schon wieder. Hunderte Amerikaner waren gestorben, und bislang gab es kaum Anhaltspunkte. Die Bombenleger selbst würden nicht mehr reden; sie waren so vollständig vernichtet worden, dass das FBI nie genug DNS für einen Vergleich finden würde. Im Augenblick tappten alle im Dunkeln.
Gleichzeitig hatte man sich schon auf einen Verdächtigen geeinigt, wie Exley feststellte, sobald sie in ihrem Büro eintraf, wo ein Assistent von Duto sie erwartete und verlangte, dass sie ihm Wells’ Akte aus dem Safe gab. »Für Vinny«, erklärte
der Assistent. Wortlos schloss sie den Safe auf und übergab ihm die Akte.
Als Shafer eintrat, sah sie sich gerade die ersten Blitzmeldungen an. »Was sagt Ihnen Ihr Gefühl?«
Exley musste nicht erst nachfragen, was er meinte. »Er war es nicht.«
»Und Ihre Erklärung dazu?«
»Erstens war er eben erst in Montana. Eine solche Aktion lässt sich nicht an einem Tag organisieren.«
»Zweitens?«
»Zweitens, wenn er es war, warum sollte er durch einen Besuch bei seiner Exfrau die gesamte Operation riskieren?«
»Drittens?«
»Drittens. Selbst wenn er die Seiten gewechselt hätte, würde er nie zivile Ziele angreifen.«
»Er ist bereit zu Gewalt.«
»Aber nicht gegen Zivilisten. Das wäre für ihn nicht fair.«
»Viertens?«
»Mir fällt kein vierter Grund ein.«
Shafer deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von einem Zentimeter an. »Duto steht so knapp davor, eine Meldung über ihn hinauszugeben.« Eine Fahndung nach Wells an die Polizei und das FBI.
»Aufgrund welcher Beweise?«, erkundigte sich Exley.
»Weil er sich zu Tode fürchtet, dass einer seiner Männer gerade dreihundert Menschen umgebracht hat, und er allen Vorwürfen zuvorkommen will. Wenn Wells es wirklich getan hat, ist sein Rausschmiss noch das Geringste. Sie und ich könnten im Gefängnis landen. Aus allgemeinen Gründen.«
»Aber er hat es nicht getan!«, erklärte Exley, die von ihrer eigenen Überzeugung überrascht war.
»Kommen Sie, wir sprechen mit Vinny.«
Als sie aufstand, läutete ihr Telefon.
»Ja?«
»Jennifer Exley?«, fragte ein Mann. Sie erkannte seine Stimme sofort.
»Wo sind Sie?«
»Hier, in Washington.«
»Gott sei Dank, John.« Sie konnte ihre Erleichterung nicht verbergen.
»Ich glaube, ich sollte vorbeikommen.«
»Ja«, stimmte sie zu, »das sollten Sie.«
5
»Es war ein Fehler«, wiederholte Wells. »Ich habe einen Fehler gemacht.«
Exley, Shafer und Duto saßen ihm gegenüber an einem Konferenztisch in einem kleinen, fensterlosen Raum, der nicht ganz dem üblichen Bürostandard entsprach. So gab es zum Beispiel keine Uhr, dafür starrte aus jeder Ecke eine Kamera, die bewusst sichtbar angebracht war, und die Wände waren mit einer schalldämmenden Polsterung ausgekleidet. Theoretisch diente die Polsterung dazu, jeden Versuch zu vereiteln, Gespräche zu belauschen, die in diesem Raum geführt wurden. In der Praxis signalisierten sie dasselbe wie die Kameras in der Ecke. Wells dachte: Das ist ein ernst zu nehmender Raum und du steckst in ernsten Schwierigkeiten. Etwas abseits an der Wand saß ein Mann im Anzug. Auch wenn er sich nicht vorgestellt hatte, hielt ihn Wells für einen Rechtsanwalt. Welche Aufgabe der halslose Sicherheitsbeamte in Zivilkleidung hatte, dessen Hand auf der Glock an seiner Hüfte lag, musste Wells nicht erst raten.
Niemand hatte auch nur versucht,
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