John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Luft strömte, schwitzte Aziz unablässig. Die Fahrerkabine stank nach dem beißenden Geruch von Angst, der sogar den Duft von Rosenwasser überlagerte, mit dem sich Aziz als Vorbereitung auf seine Reise ins Paradies betupft hatte. Neun Uhr fünfundvierzig, fünf Minuten zu spät, und er war immer noch nicht am Ziel. Viel schlimmer jedoch war, dass seine Entschlossenheit ins Wanken geraten war. Im Motelzimmer war er noch zuversichtlich gewesen, aber je näher der entscheidende Augenblick rückte, desto schwerer fiel es
ihm, seine Angst unter Kontrolle zu halten. Würde es schmerzen, wenn er auf den Knopf drückte? Was, wenn er nicht in das Paradies käme? Selbstverständlich wusste er, dass er ins Paradies eingehen würde. Immerhin sagte das der Koran. Und auch Abu Mustafa. Er würde ein Schahid sein, ein Märtyrer. Und als Märtyrer würden ihn die schönsten Jungfrauen umringen, er würde das reinste Wasser trinken und die süßesten Datteln speisen.
»Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft«, hieß es in der neunten Sure. »Sie kämpfen für Allahs Sache, sie töten und werden getötet.« Es stand also fest, dass er ins Paradies eingehen würde.
Aber was, wenn doch nicht?
Als die Ampel vor ihm auf Grün schaltete und sich keiner der Wagen rührte, drückte er auf die Hupe. Schließlich setzten sie sich doch in Bewegung. Aziz sah sich auf der Straße um. Diese Menschen spazierten wie in einem Nebel dahin, während ihre Soldaten im Irak Gefangene vergewaltigten. Sie saugten das Öl der ganzen Welt auf und lebten wie Könige, während islamische Kinder verhungerten. Sie hatten keinen Respekt vor ihrem eigenen Körper und glaubten an den falschen Gott. Sie waren nichts als Schweine im Dreck. Alles, was sie taten, war haram, verboten. Wut stieg in Aziz auf. Er hatte keinen Grund, sich zu fürchten, denn sie verdienten es zu sterben. Es war Allahs Wille.
Als die Ampel erneut auf Grün sprang, kroch Aziz mit dem Lieferwagen über die Kreuzung von Hollywood und Ivar. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen. Dies war sein Ziel. Aziz hielt den Wagen an, griff nach der Sprengkapsel und drehte sie in der Hand.
Ich kann es nicht, dachte er. Allah vergib mir, aber ich kann es nicht.
Im Lieferwagen verging die Zeit unendlich langsam. Aziz wusste, dass er sich entscheiden musste. Die Menschen sahen bereits zu ihm herüber, und schon bald würde ihn ein Polizist auffordern, weiterzufahren. Aber er war wie gelähmt. Vorsichtig schob er den Daumen über den Zünder und drückte den Knopf ganz leicht, bis er die Spannung in seinem Finger fühlte. Während er durch die Windschutzscheibe starrte murmelte er nahezu tonlos die erste Sure des Korans.
»Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen …«
Jetzt, sagte er sich. Jetzt oder nie.
In dem Augenblick drückte er auf den Knopf.
Die zweite Bombe sollte noch mehr Zerstörung verursachen als die erste. Durch die Explosion entstand ein Krater von fünf Metern Tiefe und zehn Metern Durchmesser. Rauch, Trümmer und Flammen wurden mehrere Hundert Meter hoch in die Luft geschleudert. Da die Druckwelle nicht durch Wände gebremst wurde, tötete sie alle Menschen in einem Radius von dreißig Metern. Die Passanten in der Nähe des Trucks wurden zerrissen und gegrillt; in etwas größerer Entfernung konnte man die Leichen noch als Menschen erkennen, wenn auch vielen Arme und Beine fehlten. Einige der Toten wirkten im Grunde unverletzt; die Druckwelle hatte ihre Körper intakt gelassen, aber ihre Gehirne zu Gel gerüttelt. Insgesamt stürzten durch die Explosion vier Bauwerke teilweise ein, unter ihnen das Gebäude des Ivar-Cinescapes direkt gegenüber. Im Inneren des Ivar brach ein Feuer aus, und da nur ein Notausgang zur Verfügung stand, kam es zu einer Panik. Auf diese Weise starben weitere fünfundachtzig Menschen, die zu Tode gedrückt wurden oder verbrannten.
Unmittelbar nach der Explosion breitete sich für einen Augenblick eine Stille des Entsetzens aus, ein falscher Frieden, der das Vorher vom Nachher trennte. Dann brach Chaos aus: Autoalarmanlagen heulten los, Feuer flammten brüllend auf, Schreie gellten durch die Nacht. So viele Schreie. Die meisten waren kaum als menschliche Schreie zu erkennen: es war ein hohes durchdringendes Heulen, das willkürlich einsetzte und abbrach.
Bennett war zu Boden geschleudert worden. Rasch stieß er sich vom Asphalt hoch und rannte auf die Wrackteile zu, ohne zu bemerken, dass
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