John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
freundlich zu sein. Die Wachen am Tor hatten ihn von Kopf bis Fuß durchsucht, ehe sie ihn einließen. Dann war er ein zweites Mal durchsucht worden, ehe er zu Exley und Shafer geführt wurde, die ihn nicht mit einer Umarmung sondern mit Handschlag begrüßt hatten, als wäre er nur von einem dreitägigen Verkaufsgespräch
nach Detroit zurückgekehrt. Das überraschte ihn nicht.
»John«, hatte Shafer gesagt. »Wir haben ein paar Fragen an Sie.« Wells glaubte, dass in Exleys Augen kurz noch etwas anderes aufgeflackert war, als sie einander wiedersahen, aber es war sofort wieder verschwunden. Wenn sie sich freute, ihn zu sehen, verbarg sie es gut.
Nachdem er den Sportplatz des YMCA verlassen hatte, hatte er sich eine Fahrkarte für den Greyhound-Bus von Missoula nach Washington gekauft, seine letzte Möglichkeit, allein zu sein, ehe sich die Welt wieder zu drehen anfangen würde. Sobald er in Washington D.C. ankäme, würde er die CIA anrufen. Vor zwei Wochen hatte er sich mit Sawahiri in Peschawar getroffen. Diese zwei Wochen Freiheit nach all diesen Jahren am Rande der Welt erschienen ihm nur fair.
Im Bus hatte sich Wells schwer und ruhig zugleich gefühlt, als wäre sein Blut durch eine kühlere, beruhigendere Flüssigkeit ersetzt worden. Während er im Koran blätterte, zählte er auf, was er in den letzten Jahren verloren hatte. Seine Mutter. Seine Exfrau. Seinen Sohn, wenn auch nicht für immer, wie er hoffte. Aber er hatte immer noch Gelegenheit, sein Land vor jenen Männern zu beschützen, die glaubten, dass ihnen der Koran einen Freibrief ausstellte, es zu zerstören.
Jetzt war er wütend auf sich selbst. Die Welt hatte sich weitergedreht, ohne dass er es gemerkt hatte. Drei Stunden, nachdem der Greyhound-Bus in den heruntergekommenen Busbahnhof von Washington eingefahren war, hatte er die Nachrichten aus Los Angeles gehört. Sofort wusste er, dass er schon bei seiner Ankunft in Hongkong die Agency kontaktieren hätte sollen. Der Anschlag würde die Zweifel innerhalb
der CIA zum Überkochen bringen, die man ihm ohnehin bereits entgegenbrachte.
So hatte er beschlossen, ruhig zu bleiben, was auch immer man ihm sagen würde. Er würde sie davon überzeugen müssen, dass sie ihm vertrauen konnten, denn er würde keine zweite Chance bekommen. Deshalb umriss er seine Jahre in der Nordwestprovinz und ging mit ihnen die Wochen seit seiner Abreise aus Islamabad durch: wo er sich aufgehalten hatte, wohin er gereist war, welchen Namen er benutzt hatte bei der Einreisebehörde am Kennedy Airport. Er erzählte ihnen von seinem Treffen in Peschawar mit Sawahiri, Khadri und Farouk, und wie sie ihn ohne genau definierte Aufgabe in die USA geschickt hatten.
»Nicht nach Los Angeles?«, hakte Duto nach.
»Nein.«
»Das heißt, Sie wussten nichts von Los Angeles?«
»Natürlich nicht.«
So ruhig er konnte, entschuldigte er sich: dafür, dass er in das Land eingereist war, ohne sie zu informieren; dafür, dass er sie nicht von Peschawar aus kontaktiert hatte; dafür, dass er Bin Laden nicht getötet hatte. Und er erklärte alles, so gut er konnte. Aber er wusste, dass er das Einzige, das sie in Wirklichkeit von ihm wollten, nicht hatte: Informationen über den letzten Anschlag – und über den nächsten.
Auf der anderen Seite des Konferenztisches fühlte Exley, wie sich ihr Magen verkrampfte. Duto war Wells noch nie zuvor begegnet. Er konnte also nicht wissen, welchen Preis Wells dort drüben bezahlt hatte. Da ging es nicht nur um die Falten in seinem Gesicht oder die Narbe auf seinem Arm. Auch wenn das Selbstbewusstsein noch nicht aus seinen Augen verschwunden war, hatte es sich mit etwas anderem
vermischt, mit einer Demut, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Außerdem ergab Wells’ Geschichte einen Sinn. Er wollte seine Familie besuchen und ein paar Tage allein sein. Selbst wenn Duto das nicht verstand, sie verstand es. Das war doch kein Verbrechen. Am liebsten hätte sie Duto am Arm gepackt und ihm gesagt: Sehen Sie denn nicht, dass er auf unserer Seite steht? Vermutlich gäbe es keine bessere Möglichkeit, um ihren geringen Einfluss augenblicklich zu verlieren. Duto hatte eindeutig beschlossen, dass Wells wertlos war, auch wenn er immer noch loyal zur CIA stand. Er hatte weder den Anschlag vom 11. September, noch die beiden Attentate in Los Angeles verhindert. Also weg mit ihm.
Wenn sie ihm jetzt sagte, dass sie die Wahrheit in Wells’ Augen sehen konnte, würde sie augenblicklich nach Ottawa versetzt
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