John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
ausgesehen haben müssen?«
»Oh, ich habe wirklich gut ausgesehen. Jetzt wo ich alt bin, kann ich es ja sagen: Ich war heiß. Und ich trug so einen kurzen Minirock mit Stiefeln … Meine Mutter muss wirklich
vieles im Kopf gehabt haben, sonst hätte sie mich nie so aus dem Haus gelassen.«
»Sie sind nicht alt, Jenny.«
»Zu freundlich. Auf jeden Fall nahm ich den BART nach Oakland, denn um mit dem Auto zu fahren, war ich zu jung. Dann musste ich durch dieses miese Viertel, das vor der Bay Area liegt, wo jeder Quadratmeter Millionen Dollar wert ist. Und gerade, als ich nervös wurde, fand ich es. Eine mit riesigen Boxen verstärkte, laute, große Party in einem weitläufigen heruntergekommenen Haus. Einige Studenten aus Berkley waren da, einige Universitätsabsolventen, ein paar Kerle aus der Nachbarschaft und sogar einige Motorradfreaks, für die Oakland damals berühmt war. Wer eine Party schmiss, tat gut daran, auch die Leute aus der Umgebung einzuladen. Die Mädchen waren etwas jünger, aber alle zumindest schon auf dem College. Erst nahm ich mir ein Bier und machte ein paar Züge aus einer Wasserpfeife, die mindestens einen Meter zwanzig lang war, und dann machte ich mich auf die Suche nach Mr Right.«
»Jenny …«
»Zu spät. Jetzt will ich es bis zum Ende erzählen.« Sie wusste, dass sie ihm alles erzählen musste. Vielleicht um ihn zu provozieren, vielleicht aber auch, um ihn zu erregen. »Dann sah ich diesen blonden Kerl, ein Surfertyp, groß und attraktiv. Kein Rohling. Vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Während ich auf ihn zugehe – ich habe ihn schon fast erreicht –, packt mich dieser Kerl in schwarzem T-Shirt am Arm und drückt mich an sich. Seine Arme sind über und über mit Tätowierungen übersät. Er fragt mich, ob ich ein Bier will oder vielleicht etwas Härteres und steckt mir dabei seine Zunge fast bis in die Kehle. Aber ich schüttle ihn ab und gehe zu dem Surfer hinüber.
Der Blonde ist auch interessiert, und es dauert keine halbe Stunde, bis ich mit ihm oben in einem der Schlafzimmer bin. Wir packen ihn aus, und er ist gut und hart, und dann sage ich etwas Albernes wie ›Steck ihn mir hinein, du Hengst‹. Da schaut er mich an und fragt: ›Was hast du gesagt?‹. Und dann schaut er mich genauer an und fragt mich: ›Wie alt bist du überhaupt?‹. Im nächsten Augenblick ist er schon auf dem Weg zur Tür. Als ich sage: ›Aber ich will, dass du mich fickst, weil ich keine Jungfrau mehr sein will‹, flüchtet er regelrecht. «
»Das heißt also, dass Sie in dieser Nacht Ihre Unschuld nicht verloren haben.«
»Lassen Sie mich doch zu Ende erzählen, John. Sobald ich wieder unten bin, treffe ich auf Mr Tattoo und frage ihn: ›Wie wäre es jetzt mit dem Drink?‹. Zehn Minuten später besorgt er es mir im Keller auf dem Billardtisch mit einem Handtuch unter meinen Hüften. Denn das war seine größte Sorge im Hinblick auf meine Jungfräulichkeit. Dass ich den Filz vollbluten könnte, immerhin kannte er die Mieter des Hauses. Vermutlich hielt er kaum fünf Minuten durch, aber mir erschien es wie eine Ewigkeit. Zum Glück war ich noch feucht vom Surfer, sonst hätte es wirklich wehgetan.«
»Jenny …«
»Der Clou kommt noch. Als er fertig war und ich das Handtuch über und über mit Blutflecken beschmutzt hatte, warf er das Kondom neben mich auf den Billardtisch, zog die Hose hoch, drehte sich um und verschwand wortlos.«
Wells steuerte den Jeep an den Straßenrand. Mittlerweile hatte es leicht zu regnen begonnen, sodass sich die Windschutzscheibe beschlug und sich die Straßenlichter als Ringe auf der Scheibe spiegelten. Langsam fuhren Autos vorüber.
Sie wurden von Männern und Frauen gelenkt, die in Einkaufszentren, Krankenhäusern oder Büros in der Stadt arbeiteten und ein anständiges, ruhiges Leben führten. Von Menschen, die er nie kennen lernen würde.
Warum, Jenny?, hätte er beinahe laut gefragt. Warum hast du das getan? Aber er hielt sich zurück. Sie hatte es getan, weil sie es wollte, und sie hatte es ihm erzählt, weil sie es wollte. Was gab ihm das Recht, sie zu verurteilen? Sein eigener Lebenslauf verlieh ihm auch nicht gerade viel moralische Autorität. »Warst du froh, dass du es getan hast?«, fragte er schließlich.
Als sie näher an ihn heranrückte, wusste er, dass er die richtige Frage gestellt hatte. »Ja. Obwohl ich nie wieder so etwas getan habe. Es ist, als würde man Säure verschütten. Ein kleiner Tropfen kann einiges
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