John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
erzählen, dass ihr Sohn sie bei ihrem letzten Wiedersehen angebrüllt und erklärt hatte, dass er Randy lieber hatte als sie? Oder dass sie das Radio in ihrem Schlafzimmer immer auf den Sportkanal stellte, obwohl sie für die Nationals nichts übrig hatte, nur damit sie, wenn sie um drei Uhr nachts aufwachte, aufdrehen und mit Sicherheit eine Männerstimme hören konnte?
»Sie wollen eine Geschichte hören«, sagte sie. »Okay.« Und bevor sie sich einbremsen konnte, begann sie zu reden. »Es geht um die Nacht, in der ich meine Jungfräulichkeit verlor. Ich war fünfzehn …«
»Fünfzehn?« Wells klang überrascht, dachte sie. Er wusste nicht, worauf er sich eingelassen hatte, und sie ebenso wenig. Immerhin hatte sie noch nie zuvor einem Mann davon erzählt, nicht einmal ihrem Ehemann.
»Wollen Sie, dass ich weitererzähle?« Irgendetwas drängte sie weiterzusprechen.
»Ja.« Diesmal klang seine Stimme wieder fest und ruhig.
»Ich war also fünfzehn. Meine Familie machte eine schwierige Phase durch. Mein Vater hatte immer schon getrunken, aber etwa zu dieser Zeit setzte er zum endgültigen Absturz an. Danach dauerte es noch fünf Jahre, bis er den absoluten Tiefpunkt erreichte, aber man sah bereits, worauf er zusteuerte.
Mein Bruder Danny war als Student im ersten Jahr von der UCLA geworfen worden, weil er Stimmen hörte und seinen Zimmerkollegen mit einer Tabascoflasche auf den Kopf geschlagen hatte.«
»Mit einer Tabascoflasche?«
Sie lachte schneidend. »Ich weiß, das klingt lächerlich, aber es war keine dieser winzigen Flaschen, die man in Restaurants sieht. Es war eine große Flasche, die einigen Schaden anrichten konnte. Er wurde wegen schwerer Körperverletzung angeklagt und wäre sicher im Gefängnis gelandet, wenn wir den Richter nicht davon überzeugt hätten, dass er schizophren war. Was auch stimmte.«
»Ich wusste nicht einmal, dass Sie einen Bruder haben.«
»Er hat ein paar Jahre später Selbstmord begangen. Ich rede nicht gern darüber.«
Wells ging ein wenig vom Gas und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Exley.«
»Viele Schizophrene bringen sich um. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen.« Sie schüttelte seinen Arm ab. Während sie weiter auf der 13th nach Norden fuhren, wurden die Apartmentblöcke allmählich von zweigeschossigen Häusern abgelöst, die man in der Nacht kaum unterscheiden konnte.
»Sie müssen mich bald absetzen«, sagte sie. »Man wird mich auf meinem Mobiltelefon anrufen, um mir zu sagen, dass Sie verschwunden sind. Und wenn ich nicht annehme, wird man sich einige Fragen stellen. Wollen Sie nun den Rest meiner Geschichte hören oder nicht?«
»Sie wollen sie immer noch erzählen?«
»Ja. Seltsam, aber wahr.« Warum das so war, wusste sie nicht – oder vielleicht doch. Weil die Geschichte dann auch ihm gehören würde, als Geschenk, das sie keinem anderen Menschen machen würde, weil es intimer war als alles
andere. »Ich war also fünfzehn, schwänzte die Schule, rauchte Hasch, rebellierte und trug Schwarz. Das gesamte Programm. Mein Bruder war verrückt, mein Vater ein Alkoholiker und meine Mutter ignorierte ich einfach, obwohl sie ihr Bestes gab. Einige Wochen vor meinem Geburtstag beschloss ich, dass ich unmöglich – unmöglich – mit sechzehn noch Jungfrau sein konnte. Ist das nicht ein großartiger Plan, John?«
»Glücklicher Freund.«
»Nein. Ich hatte damals keinen Freund. Außerdem wollte ich keinen Jungen von der Highschool. Ich wollte einen Mann. Einen, der mich richtig ficken würde. Auch wenn ich nicht wusste, was es bedeutete. Aber meine neuen Freundinnen, mit denen ich die Schule schwänzte, sprachen ständig über Jungs, die sie richtig fickten. Selbstverständlich wusste ich, dass einiges davon nur Gerede war, vermutlich sogar das meiste, aber einiges auch nicht. Etwa eine Woche vor meinem Geburtstag erzählte mir Jodie – eine meiner nettesten Freundinnen damals, die ein paar Jahre älter war als ich – von dieser Party, die sie besuchen wollte. Drüben in Oakland, jenseits der Bucht, wo auch Collegejungs kommen würden. Sie meinte, ich solle auch gehen. Und als sie am nächsten Tag absagte, bat ich sie um die Adresse. Meiner Mutter erzählte ich etwas von einem Konzert – ich erinnere mich noch, wie es mich freute, sie hereinzulegen, meine arme Mutter – und dann putzte ich mich auf und ging zu der Party.«
Er verringerte die Geschwindigkeit ein wenig. »Ist es ein Fehler von mir, wenn ich mir vorstelle, wie Sie damals
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