John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
vergessen zu haben,
wo ihr Platz war. Vielleicht hatte sie sich auch nie etwas aus ihm gemacht und ihn nur als Hilfsmittel gesehen, um ihrem Vater zu entkommen.
Vor einem Monat hatte er sie zum ersten Mal geschlagen. Es war in jener Nacht, als er versuchte, mit ihr zu schlafen, und sie sich wegdrehte. Zunächst hob er nur die Faust, ohne die Absicht, sie wirklich zu berühren. Doch dann lachte sie. Sie verspottet mich, dachte er. Sie lacht mich aus wegen meiner Schwäche, wegen meiner dürren Arme und meiner eingefallenen Brust, wie all die Kinder in Saint-Denis. Auch wenn er schwächlich war, war er immer noch ein Mann. Das sollte sie nie vergessen. In dem Augenblick versetzte er ihr mit der Faust einen Schlag in den Bauch. Sie schrie auf, ein einziges Mal. Wie gern hätte er sie getröstet und ihr gesagt, dass es ihm leid tat. Aber er hatte seine Zunge in Zaum gehalten.
Als er später in dieser Nacht nach ihr gegriffen hatte, hatte sie sich ihm widerstandslos hingegeben. Sie hatte auch danach nie erwähnt, was er getan hatte. Einige Tage lang glaubte Tarik, dass sie die Lektion verstanden hatte. In den letzten Wochen jedoch hatten die Heimlichkeiten begonnen. Er hatte mitgehört, wie sie am Telefon in der Küche geflüstert hatte, und als sie sah, dass er zuhörte, hatte sie aufgelegt und so getan, als hätte sie überhaupt nicht telefoniert. Als er drohend die Faust hob, schüttelte sie nur den Kopf, worauf er beschämt die Hand sinken ließ.
Tarik versuchte, nicht mehr an Fatima zu denken. Wenn sie nach Hause käme, würde er mit ihr reden, doch in der Zwischenzeit erwartete ihn seine Arbeit. Sobald er die Kellertür aufschloss, führte eine schmale Treppe hinunter zu einer weiteren versperrten Tür. Auch wenn die beiden Schlösser verdächtig wirkten, musste Tarik in jedem Fall verhindern, dass
Unbefugte in den Keller hinabstiegen. Neben dem Pest-Virus lagerten er in den Kühlschränken im Keller noch Anthrax-und Hasenpest-Erreger, die alle von der Bundesgesundheitsbehörde als Krankheitserreger der Stufe A klassifiziert waren. Auch sie hatte er vom Muhimbili Center erhalten.
Um seine Privatsphäre zu schützen, hielt sich Tarik von den anderen Studenten der McGill-Universität fern und akzeptierte Einladungen zu einem gesellschaftlichen Ereignis nur, wenn seine Abwesenheit auffallen würde. Seinen Kollegen erzählte er, dass seine Ehefrau eine fromme Muslimin sei, die nicht ausgehe, und Fatima erzählte er, dass seine Kollegen Vorurteile hätten und ihn deshalb nie einluden. Selbstverständlich konnte er sie nicht davon abhalten, gelegentlich die Nachbarn zu treffen, aber er gestattete ihr nicht, jemanden ins Haus einzuladen. Das war auch einer der Gründe, warum sie darauf bestanden hatte zu arbeiten. Vielleicht hatte er einen Fehler begangen; vielleicht hätte er ihr mehr Freundschaften zugestehen sollen.
Während er den Schlüssel in das Vorhängeschloss an der Tür unten an der Treppe steckte, ermahnte er sich, jeden Gedanken an Fatima aus seinem Kopf zu verbannen. Augenblicklich. Denn wenn er sich hier unten ablenken ließ, konnte er leicht einen Fehler machen und dieser Fehler könnte für ihn tödlich sein. So holte er tief Luft, schloss die Augen und löschte Fatima aus seinen Gedanken.
Sobald er sich bereit fühlte, öffnete er die zweite Tür und trat ein.
Den Großteil der vergangenen zwei Jahre hatte er für die Ausstattung dieses Labors aufgewendet. Die Ausrüstung war teuer, und sie zu installieren, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, war schwierig, vor allem, weil er allein arbeiten musste.
Aber diesen Sommer, kurz bevor das Pest-Virus einlangte, war es ihm endlich gelungen, das Labor fertig zu stellen.
Er hatte den Keller in zwei Arbeitsbereiche unterteilt. Der größere Teil war offen. Nur der Boden und die Wände waren mit einer doppelten Schicht schwerer Kunststofffolie ausgekleidet, um Staub und Schmutz abzuhalten. An den Wänden reihten sich Laborregale aneinander, die seine wertvollen Instrumente enthielten: ein Mikroskop mit tausendfacher Vergrößerung, ein Gasspektrometer, mehrere Fermenter, um Bakterien in Lösungen zu züchten, ein Gefrierschrank und mehrere Kühlschränke. Daneben fanden sich noch Mäusekäfige, Dampfkessel, Bunsenbrenner und Tablette mit Objektträgern und Pipetten. In einer Ecke hatte er eine abgeschlossene Sicherheitszelle installiert, die über einen Filter mit der Entlüftung des Hauses verbunden war. In einem Schrank neben der Tür hatte er
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