John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
der Stress des Direktorpostens allmählich auf Duto aus. Er war fetter, als sie sich erinnerte, und auch sein Haar – auf das er immer stolz gewesen war – hatte sich gelichtet, sodass hin und wieder sogar sein Schädel durchblitzte. Aber seine Augen waren hart wie eh und je.
Während Exley ihm und Tyson erzählte, was Wells gesagt hatte, hörte er schweigend zu. Auch als sie geendet hatte, hörte man sekundenlang als einziges Geräusch im Raum nur das Trommeln von Dutos Fingern auf dem Holztisch.
»Und jetzt etwas, das Sie wissen sollten: In der letzten Stunde haben unsere Satelliten eine groß angelegte Mobilisierung chinesischer Streitkräfte registriert. Reguläre Armeeeinheiten ebenso wie paramilitärische. Von Minute zu Minute werden es mehr. Das Weiße Haus ist darüber informiert.« Duto öffnete eine schwarz umrandete Mappe. »Sie haben auf den Highways und sämtlichen Ein- und Ausfallsstraßen von Peking Straßensperren errichtet. An der Zufahrt zu jedem Zivilflughafen werden militärische Einheiten postiert. Die Freundschaftsbrücke zwischen China und Nordkorea wurde gesperrt.«
»Sieht aus, als hätten sie ihn noch nicht gefunden.«
»Unglücklicherweise haben auch wir ihn noch nicht gefunden«, sagte Tyson. »Und falls Sie nicht telepathisch mit ihm verbunden sind, weiß ich nicht, wie uns das gelingen soll. Vor allem, weil er keinen Transponder bei sich hat und nicht imstande war, uns seine Koordinaten durchzugeben. Vielleicht hätte er gleich um eine Luftbrücke direkt vom Tiananmen-Platz bitten sollen. Das wäre leichter gewesen.«
Exleys Augen brannten. Wells konnte bereits tot sein, und Tyson machte Scherze? Offenbar sah man ihr ihre Wut auch am Gesicht an, denn Tyson machte augenblicklich einen Rückzieher. »Ich sage bloß, dass der Angriff auf die Decatur beweist, dass die Chinesen rücksichtslos vorgehen, Mrs Exley. Wenn wir unsere Schiffe weit in die Gelbe See vorrücken lassen, glauben sie vielleicht, dass wir sie absichtlich provozieren wollen.«
»Sie haben zehntausende Kilometer Küste. Die können
sie nicht lückenlos überwachen«, warf Shafer ein. »Sobald er die Zwölf-Meilen-Grenze überschreitet, ist er nicht mehr auf chinesischem Hoheitsgebiet. Und es gibt immer noch viel Verkehr auf dem Gelben Meer. Ich habe es überprüft.« Er hielt eine zweiseitige Aufstellung hoch, auf der Schiffsnamen und ihre Registrierungsnummern angeführt waren. »All diese Schiffe sollen heute in Inch’on eintreffen.«
»Ich darf Sie auf etwas hinweisen, das Sie beide vielleicht nicht gern hören«, sagte Tyson. »Mr Wells hat Ihnen gesagt, dass wir warten und keine unsinnigen Dinge tun sollen.«
»Richtig. Er hat gesagt, dass er etwas habe …«
Tyson schnitt Exley das Wort ab. »Aber er hat nicht gesagt, was es ist.«
»Es war keine sichere Telefonleitung.«
»Gleichzeitig will er, dass wir eine unglaublich aggressive Tat setzen. Meinen Sie nicht auch, dass das ein Widerspruch ist?«
»Er will, dass wir sein Leben retten«, sagte Exley.
»Vielleicht war der Anruf aber auch nur eine Täuschung der chinesischen Geheimpolizei.«
»Er war es selbst. Ich kenne seine Stimme.«
»Vielleicht haben sie ihn ja auch schon umgedreht und verwenden ihn jetzt gegen uns. Damit wir unsere Schiffe an eine verwundbare Stelle verlegen.«
»Das würde er nie tun. Da würde er eher sterben.«
»Die Menschen tun verrückte Dinge, wenn sie Schmerzen erleiden.«
Das durfte nicht wahr sein, dachte Exley. Jetzt überlegten sie bereits ernsthaft, ob sie Wells dort draußen sterben lassen sollten. »Warum mobilisieren sie dann ihre Armee und setzen all die anderen Maßnahmen?«
»Das ist Teil des Täuschungsmanövers.«
»Diesen Unsinn glauben Sie doch selbst nicht«, entgegnete sie mit erhobener Stimme, nur um sich sogleich zu mahnen, Haltung zu bewahren. Denn sie wollte ihren Gesprächspartnern keinen Vorwand liefern, ihre Meinung abzuwerten. »Das war Ihre Idee, George. Ohne Sie würde er jetzt nicht in diesen Schwierigkeiten stecken.«
»Jennifer«, sagte Duto, »mehr geht nicht. Wir können es nicht riskieren, unsere Schiffe weiter vorstoßen zu lassen. Wells muss nach Inch’on gelangen. Das ist zumindest koreanisches Gewässer.«
Shafer stieß ein dünnes, wütendes Lachen aus.
»Wollen Sie etwas sagen, Ellis?«
Shafer wartete, bis alle ihn ansahen. Üblicherweise war er voll von Ticks und überflüssigen Bewegungen. Aber nicht in diesem Augenblick. Exley hatte ihn noch nie zuvor so regungslos
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