John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
sein Magen verkrampfte, behielt er die Suppe bei sich. Er trank, so viel er konnte, was etwa eine halbe Tasse war, und schüttelte dann den Kopf. Die Frau nickte und stellte die Schüssel beiseite. Nun schnitt die grauhaarige Frau sein T-Shirt auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, nicht die aufgerissene Haut darunter zu berühren. Als sie fertig war, holte sie scharf Atem. Wells sah hinunter und wünschte sich im selben Augenblick, er hätte es nicht getan. Seine Brust und seine Bauchmuskeln waren nahezu abgehäutet, und aus den Wunden sickerte Blut. Kein Wunder, dass er nicht die Augen schließen konnte, ohne dass ihn Schwindel erfasste. Er musste sicherstellen, dass er genug trank. Wenn er nicht aufpasste, würde er durch den Blutverlust in einen Schockzustand verfallen.
Die grauhaarige Frau tauchte ein Tuch in den Kessel mit kochendem Wasser. Dann schraubte sie die Plastikflaschen
auf und schüttete ein wenig von dem Inhalt auf das Tuch. Sie hielt ihm das Tuch unter die Nase, sodass ihm der Geruch von Franzbranntwein und Wasserstoffperoxyd entgegenwehte. Wells verstand. Sie wollte, dass er wusste, was sie tun würde. Als er nickte, presste sie das Tuch auf seine Brust.
Nach den Schlägen, die er durchgestanden hatte, empfand er das Brennen des Alkohols und Peroxyds bloß als Nadelstiche. Wells lächelte, und die Frau schien zu verstehen. Denn sie legte das Tuch beiseite und goss den Alkohol direkt auf seine Brust. Dann trocknete sie ihn mit einem frischen Tuch ab und verrieb die antibakterielle Salbe auf seiner Brust. Schließlich sagte sie etwas zu der zweiten Frau, worauf sie ihn gemeinsam nach vorn lehnten und ihn langsam mit einer langen weißen Bandage verbanden, die sie mit etwas Druck eng um seinen Leib schlangen. Offensichtlich war die grauhaarige Frau zu der Ansicht gelangt, dass er einiges an Schmerzen ertragen konnte.
Sobald sie fertig waren, lag ein weißer Verband um seine Brust und seinen Bauch. Und obwohl der Stoff gegen seine gebrochenen Rippen drückte, fühlte sich Wells stärker als noch vor wenigen Minuten. Er griff nach der Suppe und schlürfte sie langsam, bis die Schale leer war.
»So gut wie neu«, sagte er.
Zum ersten Mal seit Beginn der Folterung konnte Wells klar genug denken, um seinen nächsten Schritt zu setzen. Er griff in die Tasche, und da war es. Sein neues Mobiltelefon, das er sich vor fünf Tagen gekauft hatte und das auf Jim Wilson aus Palo Alto registriert war. Es steckte immer noch in seiner Hose. Er hatte noch darüber nachgedacht, ob er es heute überhaupt mitnehmen solle, dann aber keinen Grund gefunden, warum ein amerikanischer Geschäftsmann kein
Mobiltelefon mitnehmen sollte. Jetzt war er froh, dass er es bei sich hatte. Extrem froh sogar.
Er zog das schlanke Motorola-Telefon aus der Tasche und prüfte den Empfang. Service verfügbar. Dem Himmel sei Dank für die Technologie. Wells fragte sich, ob die Chinesen eine Wanze in das Telefon eingebaut hatten. Aber vermutlich nicht, denn sie hatten keinen Grund anzunehmen, dass er entkommen würde.
In jedem Fall musste er Exley jetzt erreichen, bevor die Chinesen alle Kommunikationswege in die USA unterbanden. Er musste so rasch handeln, wie er nur konnte. Wells wählte ihre Mobiltelefonnummer, aber nicht die 415er-Nummer, sondern die jenes Telefons, das sie immer bei sich trug. Nach dem dritten Läuten …
»Hallo. Hallo?« Washington war zwölf Stunden hinterher, erinnerte sich Wells. Sie musste tief geschlafen haben, zumindest hoffte er das für sie.
»Jennifer.«
»Ja, John.« Dass sie damit seine Tarnung hatte auffliegen lassen, kümmerte ihn nicht. In seinem Namen hörte er all ihre Fragen: Wo bist du? Bist du in Ordnung?
»Ich bin in Peking. Weißt du noch, wo Ted Becker unterging, Jenny?« Im Gelben Meer, südwestlich von Inch’on.
»Natürlich.«
»Ich muss abgeholt werden. Dort in der Nähe. Oder westlich davon. So weit westlich wie möglich.« Selbst wenn die Chinesen diesen Anruf mitschnitten, was Wells nicht glaubte, würden sie wohl kaum verstehen, was er meinte.
»Wann?«
Fünfhundert Kilometer bis Yantai und dann noch eine Fahrt mit einem Boot. »In acht bis vierundzwanzig Stunden. Wenn es später wird, stecke ich in Schwierigkeiten.«
»Kannst du uns helfen, dich zu finden?« Exley fragte sich, ob er einen Transponder oder ein anderes Gerät bei sich hatte, das ihnen bei der Suche helfen würde.
»Nein. Aber das rote Team« – der Standardausdruck innerhalb der amerikanischen Armee
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