John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
zweiundzwanzig Uhr, in Deutschland vier Uhr morgens -, und er war selbst durch die eisige Luft in der Fluggastbrücke nicht wach geworden. Vielleicht wurde er alt.
Als er nach zehn Jahren in Afghanistan und Pakistan nach Hause gekommen war, hatte er den Reichtum der Vereinigten Staaten erdrückend gefunden. Nicht nur die Größe der Geschäfte, in denen endlose Regalreihen Produkte für jeden nur erdenklichen Bedarf anboten, sondern auch die Gebäude selbst mit ihren hohen Decken, die dicht an dicht nebeneinander standen. Sogar die Beleuchtung, Reihen greller Leuchtstoffröhren, wo die Afghanen mit einer einzigen Sechzig-Watt-Birne ausgekommen
wären. Die Amerikaner beschwerten sich zwar gern über die Strompreise, aber deswegen schränkten sie sich beim Verbrauch noch lange nicht ein. Wells fragte sich, ob er in einem Potemkinschen Dorf mit fünfzig Bundesstaaten gelandet war, ob die Einkaufszentren, Gewerbeparks und Highways nur eine gigantische Bühnendekoration waren. Solcher Überfluss konnte nicht echt sein.
Ob gut oder schlecht, das Gefühl hatte sich gelegt. Jetzt, nach zwei Jahren mit Motorrädern, perfekten Zähnen, Flachbildfernsehern und Lebensmittelgeschäften voll frischem Obst, hatte sich Wells wieder an den Reichtum seines Landes gewöhnt, auch wenn er nicht unbedingt glücklich damit war.
Heute Nacht jedoch spürte er eine andere Entfremdung, eine Art Echtzeit-Trauer um die Menschen in der Halle unter ihm. Die Familie, die vor dem Subway Limonade trank, mit den beiden gleich angezogenen Kleinkindern: dick wattierte rote Jacken, Jeans und weiße Turnschuhe. Nicht aus modischen Gründen, sondern weil die Sachen bei Wal-Mart im Ausverkauf günstig gewesen waren. Die Handelsvertreterin im diskreten grauen Kostüm, die, an eine Wand gelehnt, die Nachrichten auf ihrem BlackBerry las und dann still triumphierend die Faust schüttelte - das Geschäft war unter Dach und Fach, der Bonus gesichert. Den Mann mittleren Alters mit der dunkelsten Haut, die Wells je gesehen hatte, der an Flugsteig C-89 eine ebenso dunkle Frau umarmte, die unter ihrem Wintermantel ein Kleid in grellem Orange und Grün trug.
Wo auch immer die Bombe hochging, dieser Ort würde zerstört werden. Die Gebäude würden wieder aufgebaut
werden, und vielleicht würde sich sogar die Wirtschaft irgendwann erholen. Aber die Vorstellung von den Vereinigten Staaten als Vorbild für die ganze Welt, als Land, dem Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand geschenkt worden waren, damit es diese Geschenke in alle anderen Teile der Erde exportieren konnte, würde für immer untergehen. Vielleicht war Amerika diesem Anspruch ja auch nie gerecht geworden. Vielleicht war es nie die leuchtende Stadt geworden, von der seine Väter geträumt hatten. Aber Träume besaßen Macht, auch wenn sie sich nicht erfüllten. Die Welt würde ärmer sein, wenn der amerikanische Traum starb.
Am Zoll musste Wells nicht einmal seinen Pass aushändigen. Die Beamtin begleitete ihn einfach durch die Kontrollen, und dann war er offiziell wieder auf amerikanischem Boden. Fünf Minuten später stand er am Gate C-101 und nahm die letzte Abendmaschine nach Washington.
Am Inlandsflughafen in Washington wartete Shafer auf ihn, auch das eine Überraschung. Shafer streckte ihm die Hand hin, eine verschrumpelte Pranke, die aus dem zu kurzen Hemdsärmel ragte. Wells ließ sie in der Luft hängen, bis Shafer sie zurückzog.
»Also gut«, sagte Shafer, »das habe ich verdient. Willst du darüber sprechen? Oder sollen wir das auf später verschieben?«
Wells ignorierte ihn und steuerte auf den Ausgang zu. Shafer trottete hinter ihm her wie ein kläffender Köter. »Du solltest merken, dass du nicht immer im Alleingang handeln kannst. Sozusagen eine Übung am lebenden Objekt. Hat leider nicht so geklappt, wie ich mir das vorgestellt …«
»Hör auf«, sagte Wells. Wenn das hier vorüber war - falls es das jemals sein sollte -, konnten sie immer noch darüber reden, was Shafer getan hatte. Oder, was wahrscheinlicher war, es mit all den anderen Missverständnissen, Halbwahrheiten und Lügen begraben, die seit Jahren das Verhältnis zwischen Wells und der CIA bestimmten.
Vor dem Terminal warteten ein Ford Crown Victoria und zwei Geländewagen, schwarze Suburbans mit gepanzerten Fenstern und Antennen auf dem Dach. Vor dem ersten von ihnen standen zwei Agenten in Anzügen. Als sich Wells und Shafer näherten, öffneten sich die hinteren Türen des ersten Suburban. Wells und Shafer
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