Joli Rouge (German Edition)
Selbst D’Ogeron ließ den Olonnaisen walten.
Pierre war es oft schwergefallen, die politischen
Machenschaften der Gouverneure zu verstehen. Mal handelten
sie im Sinne ihres Landes, mal in ihrem eigenen Sinn. Als
Junge hatte er an den Kodex geglaubt und war davon überzeugt
gewesen, dass die Brüder füreinander einstanden. Als Mann
glaubte er nur noch an sich selbst. Er würde L’Olonnais auf
dieser Fahrt zur Seite stehen, weil es D’Ogeron guthieß.
Sein Schiff stand ohnehin bereit, und die letzte Prise war
verprasst. Was danach kam, konnte er nicht sagen. Aber er
hatte nicht vor, sich dem Olonnaisen zu unterstellen.
Von Port Royal hatte er Kunde erhalten, dass Henry Morgan,
der Neffe von Colonel Edward Morgan, dabei war, sich Gehör
unter den Brüdern zu verschaffen. Viele Flibustier
beschrieben ihn als charismatischen Mann und dachten darüber
nach, sich ihm anzuschließen, obwohl er englischer
Abstammung war. Er verstand es, die Männer zu einen. So wie
es einst dem Basken gelungen war. Pierre wollte sich so bald
wie möglich selbst ein Bild davon machen. Auch wenn er
wusste, dass Remi alles andere als erfreut darüber sein
würde. Um ihr Verhältnis war es seit einigen Jahren nicht
zum Besten bestellt. Sie sahen sich nur noch auf dem Schiff,
wo Remi in zuverlässiger Manier seinen Aufgaben nachkam.
Doch Worte der Freundschaft fielen nicht mehr zwischen
ihnen. Nicht mehr seit dem Tag ihrer Auseinandersetzung
wegen des Eintreffens der
Fortune Noire
. Pierre wusste
nicht, was Remi derart verändert hatte, aber sein Blick
blieb unstet. Er konnte Pierre nicht mehr in die Augen sehen
und ging ihm aus dem Weg. Zunächst erbost über seine Worte,
später zu sehr mit dem Verlust von Jérôme und Jacquotte
beschäftigt, hatte Pierre dieses Verhalten nie hinterfragt.
Er fand sich damit ab. Wie mit so vielem in seinem Leben.
Energisch trat er über die Schwelle des ‚Antre Borgne‘. Er
blinzelte. Seine Augen mussten sich erst an das Dunkel der
Taverne gewöhnen. Das Stimmengewirr der Männer wurde vom
übertriebenen Gelächter der Mädchen unterbrochen, die
aufreizend durch den Raum schritten. Pierre kannte die
meisten. Er kam gelegentlich vorbei, wenn er sich einsam
fühlte, und stillte den Hunger in seinen Lenden. Doch als
sich eine von ihnen mit raschelnden Gewändern näherte, stieß
er sie zur Seite. Ihr aufdringliches Parfüm, das wie eine
Welle vor ihr her wogte, verursachte ihm Übelkeit in der
stickigen Luft.
Michel Le Basque und die anderen saßen bereits im hinteren
Teil der Schenke. Er trat heran und nickte ihnen zu. Es
waren die bekannten Gesichter von Moïse Vauquelin, Bigford,
Jan Willems, Kapitän Aymé sowie François L’Olonnais in
Begleitung eines finster dreinblickenden Fremden mit Glatze,
den Pierre noch nie zuvor gesehen hatte. Er vermutete, dass
es sich bei dem Mann um Antoine Du Puits handelte, den
Schatten des Olonnaisen. Man munkelte, er würde nicht nur
das Schiff seines Kapitäns steuern, sondern auch dessen
Gesinnung. Pierre musterte ihn. Ein zerschlissener,
dunkelroter Umhang verdeckte nur ansatzweise die zahlreichen
Waffen, die an einem grob gegerbten Gürtel baumelten. Hose
und Stiefel waren steif vom Salzwasser und seine
sonnengegerbte Haut spröde und rissig. Der Schweiß, der ihm
in dünnen Rinnsalen über das Gesicht lief, hinterließ helle
Spuren auf seinen Wangen. Mit einer zackigen Bewegung kippte
er den Rum hinunter. Er schluckte kaum merklich und verzog
kurz die Lippen. Als er Pierres Blick bemerkte, fixierte er
ihn zuerst aus den Augenwinkeln, bevor er ihm gemächlich den
Kopf zuwandte und seine dunklen Augen feindselig auf ihn
richtete. Pierre hielt seinem Blick stand. Erst nach einer
Weile wandte er sich ab und setzte sich. Ihm war mit einem
Mal unwohl zumute.
»Lasst uns beginnen«, ergriff der Baske das Wort. »Ihr
habt gehört, was der Gouverneur gesagt hat. Maracaibo heißt
unser Ziel. Um die Winde auszunutzen, müssen wir bald
aufbrechen.« Er blickte in die Runde, um das bestätigende
Kopfnicken der Brüder aufzunehmen, bevor er fortfuhr: »Viele
von euch segeln mit minimaler Mannschaft. Ich kenne dieses
Problem. Je weniger Männer, umso größer die Prise für jeden
Einzelnen. Doch seid versichert, der Überfall auf Maracaibo
wird zahllose gierige Hände füllen. Wir werden darum
zunächst Bayahá anlaufen, um Proviant und weitere Brüder auf
unsere Schiffe zu holen. Der Kampf um Maracaibo
Weitere Kostenlose Bücher