Joli Rouge (German Edition)
und verbannte Yayael aus seiner Heimat. Entwurzelt
irrte Yayael umher und kehrte schließlich demütig in das
Haus seines Vaters zurück. Yaya aber konnte in das Herz
seines Sohnes blicken, sah dort immer noch böse Absichten
und tötete ihn. Er verwahrte seine Gebeine in einer
Kalebasse auf und hängte sie an die Decke seiner Hütte, wo
sie eine Zeitlang unentdeckt blieben. Eines Tages jedoch
drangen hungrige Diebe in Yayas Behausung ein und vermuteten
Nahrungsmittel in der Kalebasse. In der Eile rutschte ihnen
das Gefäß aus den Händen, fiel zu Boden und zerbrach. Doch
anstatt der Gebeine kam Wasser aus der Kalebasse. Es floss
so viel Wasser aus ihr heraus, dass es die Erde bedeckte und
sich immer weiter ausbreitete. Und mit ihm kamen die Fische
in so reicher Zahl, dass niemand mehr hungern musste. Auf
diese Weise entstand unser Meer und Yayaels Tod hat allen
Menschen etwas Gutes gebracht!«
Manuel verzog sein Gesicht. Nur wer ihn gut kannte,
wusste, dass dies ein Ausdruck von Freude war. »Semmi«, rief
er.
»Dein
cemi
passt immer auf dich auf«, bestätigte Jacquotte
und berührte den Talisman, der um Manuels Hals hing. Es war
ein rötlicher Stein, dem durch regelmäßige Einkerbungen eine
menschliche Gestalt verliehen worden war. Ursprünglich hatte
sie ihn von ihrem Vater als Andenken an die Mutter bekommen,
aber als Pierre ihr später die Bedeutung des Steins
erklärte, gab sie ihn an Manuel weiter. Nach Pierres Aussage
waren die
cemi
gute Götter, die ihre Träger vor Krankheiten,
Naturkatastrophen und Kriegen beschützten, und Jacquotte war
der Meinung, dass Manuel diesen Schutz nötiger hatte als
sie. Denn obwohl sie nie zugegeben hätte abergläubisch zu
sein, so war sie doch geneigt, den Berichten der Männer zu
vertrauen. Diese behaupteten, dass Anani bei ihrer Rettung
vom spanischen Kapitän der Galeone verflucht und deshalb mit
einem Kind wie Manuel bestraft worden war. Jacquotte wusste,
dass Pierre dieses Gerede für Unsinn hielt. In seinen Augen
lebte ein guter Geist in Manuels deformiertem Körper. Er
sagte, dass dieser Geist sich nur den Menschen zeigte, die
über Manuels Andersartigkeit hinweg sahen und ihm
wohlgesonnen waren. Jacquotte beschlich nicht zum ersten Mal
das Gefühl, dass sich Pierre das überlieferte Wissen seiner
Indio-Mutter zunutze machte, um die Welt schöner
darzustellen, als sie in Wirklichkeit war. Im Prinzip war es
jedoch einerlei, denn seine Version beschrieb Manuel besser,
als sie es je auszudrücken vermocht hätte.
»
Nanichi
?« Pierre sah sie an und Jacquotte hob
schuldbewusst den Kopf. Sie wollte nicht träumerisch wirken.
»Wollen wir aufbrechen?«
Sie nickte und ergriff seine ausgestreckte Hand. Als er
sie hochzog, wurde sie sich mit einem Mal der Wärme seines
Körpers bewusst und ihr Magen begann zu kribbeln, als hätte
sie eine Handvoll Ameisen verschluckt. Erschrocken über ihre
Empfindungen, hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie sah
die feinen Haare auf seiner Brust und roch seine Haut.
Obwohl so vertraut, wirkte Pierre in diesem Moment
befremdlich, und Jacquotte fühlte, wie ihr das Blut in die
Wangen schoss. Sie wünschte sich, Pierre von ihren Gedanken
erzählen zu können, von den Ängsten, die sie quälten und der
eigenartigen Sehnsucht in ihrem Herzen. Aber sie fand keine
passenden Worte. Zu lange waren sie Kinder gewesen, doch je
älter sie wurden, desto komplizierter wurde ihre
Freundschaft. Die Unbeschwertheit von einst verflog wie der
Morgennebel, der die Küste des Öfteren einhüllte, und ließ
die Realität in jenem gleißenden Licht zurück, das kleinste
Details offenbarte.
»Was ist?«, fragte Pierre und sah sie forschend an. »Ist
dir nicht gut?«
Jacquotte stieß ihn von sich. »Es ist warm heute, das ist
alles.«
Pierre hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Deine Laune
ist so wandelbar wie das Wetter. Erst ziehen graue Wolken
über dein Haupt, dann zeigst du mir ein Lächeln, schöner als
die Sonne, und jetzt ist wieder ein Gewitter im Anzug.
Versteh einer die Frauen!« Er wandte sich ab.
Jacquotte horchte auf. »Was weißt du schon darüber?«,
höhnte sie. Seit dem Überfall der Spanier lebten keine
Frauen mehr in der Siedlung.
»Ich kenne dich und du bist zweifellos eine Frau. Noch
dazu eine besonders einfältige. Ich hörte die Männer über
die Frauen aus Frankreich reden und finde, du stehst ihnen
in nichts nach«, schoss Pierre zurück und half
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