Joli Rouge (German Edition)
kam Bewegung in die Truppe. Die Kunde, dass De
l’Isle zum Aufbruch drängte, erreichte die Mannschaft von
Tête-de-Mort als Letzte. Eilig wurden Feuer ausgetreten,
Sachen zusammengesammelt und übrig gebliebenes Fleisch
eingepackt, bevor die Gruppe aufschloss. Jacquotte fühlte
eine nervöse Unruhe. Während die Männer um sie herum
geschnarcht hatten, war sie selbst hellwach gewesen. Den Hut
tief ins Gesicht gezogen, hatte sie Manuel betrauert, ohne
eine Träne zu vergießen. Sie beschwor sein Lachen herauf,
bevor sie es tief in ihrem Inneren begrub, an jenem Ort, an
dem ihr Vater vor seiner Hütte saß, und es Unmengen von
Schmetterlingen gab, denen Manuel hinterher jagen konnte.
Der Ort, an den sie stets zurückkehrte, wenn sie sich einsam
fühlte und Frieden suchte. Nachdem sie auf diese Weise
stillen Abschied genommen hatte, war Jacquotte froh, wieder
marschieren zu können und legte Tempo vor.
»Du musst dich nicht beeilen, Yanis, der Kampf wird nicht
ohne dich stattfinden«, neckten die Männer sie nach einer
Weile, doch Jacquotte hörte nicht auf sie. Ihre Beine
wollten laufen und sie ließ ihnen den Willen. Sie wollte
etwas fühlen, gleich, was es war, und als mit der
Abenddämmerung endlich ihre Muskeln ermüdeten, kehrte sie
zur Mannschaft von Tête-de-Mort zurück.
»Yanis! Hast du den Feind bereits ausgespäht?«
»Wie geht es De l’Isle dort vorne?«
»Läuft die Vorhut schon durch die Nacht?«
Die Männer zogen Jacquotte auf, und sie nahm es gelassen
hin.
»Aye! Die da vorne rasten bereits wieder. Faule Hunde«,
scherzte sie, und die Männer nahmen die Aussage nur zu gerne
auf, um De l’Isle ausgiebig zu verhöhnen.
Das Stimmengewirr verlor sich im Geschrei der Vögel, die
sich in den Wipfeln ihre Schlafplätze erkämpften. Bald schon
umschloss die Gruppe sie, und Jacquotte spürte, wie die
nagende Unruhe von ihr abfiel. Unweigerlich hielt sie nach
Tête-de-Mort Ausschau. Als sie ihn sah, verhakten sich ihre
Blicke für einen kurzen Moment ineinander, und Jacquotte
spürte den Schmerz ihres Verlustes überdeutlich. Er verstand
sie. Sie ließ sich zurückfallen. An ihrer Seite angelangt,
beachtete er sie kaum noch, sondern erfasste konzentriert
sein Umfeld. Keine Bewegung entging ihm. Er starrte
geradeaus und wandte ihr sein rechtes Profil zu, das außer
der fehlenden Nase gesund aussah. Jacquotte wagte es, ihn
erneut anzusehen und wartete darauf, dass er etwas sagen
würde. Aber er schwieg. Im gleichen Rhythmus setzten sie
nebeneinander ihren Weg in die heranbrechende Nacht fort.
Erst, als sie zwei Tage später kurz vor San Jago Caballero
anhielten, um sich zu sammeln, richtete Tête-de-Mort wieder
das Wort an sie.
»Weißt du noch, was ich dir vor unserem Aufbruch gesagt
habe, Yanis?«
Jacquotte, die am Boden saß und gerade dabei war, ihre
Waffen zu überprüfen, sah überrascht auf. Eine Augenbraue
fragend nach oben gezogen, warf sie ihm ein Ledersäckchen
mit Pistolenkugeln zu. Er fing es geschickt auf, entnahm die
Hälfte und bückte sich, um es ihr zurückzugeben. Sie band es
an ihren Gürtel und sah ihn an.
»Du wirst an meiner Seite kämpfen«, erklärte er bestimmt.
»Wenn du dich auch nur eine Armlänge von mir entfernst, dann
lasse ich dich an Bord so lange das Deck schrubben, bis du
auf den blanken Knochen deiner Knie über die Planken
kriechst.«
»Aye.«
»Du bist Mitglied meiner Mannschaft. Der Kodex eint die
Brüder, ein Schiff jedoch eint die Männer, die auf ihm
segeln. Dieser Bund ist sehr viel enger als der Kodex. Wir
sind loyal bis in den Tod. Das solltest du nie vergessen«,
sagte er.
Sie nickte. Die letzten zwei Tage war Tête-de-Mort
schweigsam gewesen. Das gab ihr Zeit, sich zu sammeln und
ihre widersprüchlichen Gefühle für ihn zu ordnen. Seit
Pierre fortgegangen und ihr Vater gestorben war, hatte sie
geglaubt, niemanden in ihrem Leben zu brauchen, dem sie
vertrauen konnte. Doch dann war er aufgetaucht. Sie konnte
es nicht verstehen. Da waren Abscheu und Vorsicht, Neugier
und Zuneigung, Furcht und Unbehagen, aber auch immer mehr
Respekt und ein Gefühl der Verbundenheit. Er war anders.
Genau wie sie selbst. In gewisser Weise kämpften sie beide
gegen Dinge, die das Schicksal ihnen auferlegt hatte.
»Sieh zu, dass du nicht verwundet wirst! Wir haben keinen
Wundarzt an Bord«, brummte er.
»Aye.« Sie grinste. Verärgert kniff er die Augen zusammen
und Jacquotte senkte den Blick. »Sei
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