Joli Rouge (German Edition)
aufgesogen, das die Mutter bei ihrer
Geburt verloren hatte. Das Blut, mit dem Anani das Leben aus
dem Körper geflossen war. Er wusste, dass niemand Schuld an
ihrem Tod trug, aber die Sorgenfalten auf Jacquottes Stirn
zeugten davon, dass hinter ihren großen Augen ein innerer
Kampf tobte, den er nur erahnen konnte. Als sie mit
energischen Schritten auf ihn zuging, verbarg er sein
Lächeln hinter dem buschigen Bart. Im Gegensatz zu ihrem
ansehnlichen Äußeren gab sich seine heranwachsende Tochter
ansonsten jungenhaft. Nicht das erste Mal brachte sie ihm so
zu Bewusstsein, dass das mütterliche Element in ihrem Leben
fehlte. Und so sehr er es sich auch wünschte, es war ihm
unmöglich, ihr diese Seite ihres Seins nahe zu bringen.
Jacquottes Begrüßung fiel aus, wie Émile es von ihr
gewohnt war: Freundliche Worte und ein Nicken in seine
Richtung waren alles, was er von ihr bekam. Gesten der
Umarmung oder ein Kuss waren nichts, wofür sie etwas übrig
hatte.
»Pierre geht zu den Pflanzern, um Fleisch gegen Tabak zu
tauschen. Er bat mich um Hilfe, und wenn du einverstanden
bist, werde ich ihn begleiten.«
Émile nickte zustimmend. Er konnte seiner Tochter nichts
abschlagen, denn er wollte stets, dass es ihr gut ging.
Außerdem war sie in Begleitung von Pierre unterwegs und das
beruhigte ihn. Pierre war wie ein Sohn für ihn, und das lag
nicht nur daran, dass seine Mutter viel zu früh verstorben
war, und Pierre die Härten des Lebens in einem Alter
erfahren musste, in dem ein Junge noch nicht bereit dafür
war.
»Danke, Papa!« Jacquotte schenkte ihm ein bezauberndes
Lachen und Émile vergaß für einen Moment die Schmerzen in
seinen geschwollenen Gliedmaßen.
Mit einem Seufzer beobachtete er, wie sich seine Tochter
bückte und ins Innere der Hütte kroch, um Manuel aus seinem
Joch zu befreien. Er hörte das Gekicher des Jungen, als er
tollpatschig ins Licht krabbelte. Der Anblick seines
Erstgeborenen brach Émile jedes Mal das Herz. Sein Kopf war
zu schwammig für seinen Körper, und seine eng beieinander
liegenden Augen gaben ihm einen dümmlichen Ausdruck. Die
meisten hielten ihn für verrückt und schenkten ihm kaum
Beachtung. In der Gesellschaftsstruktur dieser Insel wurde
ihm keine Überlebenschance eingeräumt. Wäre es nach Jérôme
gegangen, dann hätte Manuel sein erstes Lebensjahr nicht
erreicht. Eine Tatsache, die Émile seinem Freund nicht
verzeihen konnte. Gleichzeitig bekannte er sich selbst
schuldig, mit dem Sohn nichts anfangen zu können. Nur
Jacquotte wachte stets über Manuel und konnte es nicht
ertragen, wenn man ihn zu seiner eigenen Sicherheit
festband. Bewegte er sich frei, behielt sie ihn wie eine
Glucke im Auge, und ließ zu, dass er mit unsicheren
Schritten den Schmetterlingen und Vögeln nachjagte.
Gerne hätte Émile sie noch länger um sich gehabt, doch
nach einem kurzen Abschied entfernte sich das ungleiche
Dreigespann wieder. Je mehr ihr Bild vor seinen Augen
verschwamm, desto größer wurde seine Unruhe. Ihm war klar,
dass sich seine Tochter langsam verselbstständigte. Sie
begann, ihre eigenen Wege zu gehen, und die Angst rumorte in
Émiles Magen wie eine roh verzehrte
patate
. Das Großziehen
von Jacquotte war das Erfüllendste gewesen, das Émile je
erlebt hatte. Er genoss jeden einzelnen Tag mit seiner
kleinen Sonne und es war, als böte ihm der Vater im Himmel
eine Chance, um an Jacquotte gut zu machen, was bei Alizée
verfehlt wurde. Zu deutlich verfolgte ihn noch das Bild
seiner Mutter, die wegen des Aberglaubens einiger Leute ein
unwürdiges Ende fand, vor dem er sie nicht hatte beschützen
können. Es verging kein Tag, an dem er nicht ihr Gesicht vor
sich sah und sich fragte, warum sie so enden musste. Doch
all das konnte er Jacquotte nicht anvertrauen. Er wollte der
Held sein, den seine Tochter in ihm sah. Die Geschichten
über die Rettung von Michel d’Artigny und die Befreiung von
Anani waren das, was Jacquotte von klein auf über ihn gehört
hatte. Die Dinge, die er als Émile Vigot in der Normandie
erlebt hatte, gehörten nicht in ihre Welt. Émile versteckte
sie tief in seinem Inneren. Und weil er nichts mehr an
seiner Vergangenheit ändern konnte, sah er seine wichtigste
Aufgabe als Vater darin, Jacquotte vor jedweder Gefahr zu
schützen. Wenn ihre Zukunft eine glückliche war, konnte auch
Émile wieder Ruhe finden. Seine Tochter besaß schon jetzt
ein Selbstbewusstsein und einen Tatendrang,
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