Jonathan Strange & Mr. Norrell
der Organist in der Kathedrale von Bath ist«, sagte Strange. »Er hat eine schwarz-weiße Katze, die ihn durch die Straßen von Bath begleitet. Einmal, als ich in der Milsom Street war...«
Eine Tür stand offen, durch die Arabella in einen sehr eleganten Salon mit vielen Gemälden an den Wänden blicken konnte. Da die Bilder prächtiger und farbenreicher wirkten als die, die sie zuvor gesehen hatte, trat sie ein.
Der Raum schien von Licht erfüllt, obwohl der Tag genauso grau und düster war wie zuvor. »Woher kommt all das Licht?«, fragte sich Arabella. »Fast scheint es, als würden die Bilder es ausstrahlen, aber das ist unmöglich.« Auf allen Gemälden war Venedig abgebildet 57 , und die großen Flächen von Himmel und Meer darauf ließen das Zimmer irgendwie unwirklich erscheinen.
Nachdem sie die Gemälde an einer Wand betrachtet hatte, drehte sie sich um und wollte auf die andere Seite des Zimmers gehen, worauf sie – es war ihr sehr peinlich – bemerkte, dass sie nicht allein war. Eine junge Frau saß vor dem Feuer auf einem blauen Sofa und schaute sie verhalten neugierig an. Das Sofa hatte eine hohe Rückenlehne, und das war der Grund, weshalb Arabella sie nicht schon früher gesehen hatte.
»Oh! Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«
Die junge Frau entgegnete nichts.
Sie war eine auffällig elegante Frau mit makelloser blasser Haut und dunklem Haar, dass zu einer überaus reizenden Frisur arrangiert war. Sie trug ein Kleid aus weißem Musselin und ein indisches Schultertuch in den Farben Elfenbein, Silber und Schwarz. Für eine Gouvernante war sie zu gut gekleidet, und für eine Gesellschafterin wirkte sie zu sehr wie zu Hause. Aber wenn sie im Haus zu Gast war, warum hatte Sir Walter sie nicht vorgestellt?
Arabella machte einen Knicks vor der jungen Frau, errötete leicht und sagte: »Ich dachte, es wäre niemand hier. Bitte verzeihen Sie, dass ich einfach so hereingekommen bin.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Oh!«, sagte die junge Frau. »Ich hoffe, Sie wollen nicht gehen. Ich sehe so selten jemanden – eigentlich überhaupt niemanden. Und außerdem wollten Sie sich die Bilder anschauen. Sie können es nicht leugnen, denn ich habe Sie im Spiegel beobachtet, als Sie eintraten, und ihre Absicht war eindeutig.« Über dem Kamin hing ein großer venezianischer Spiegel. Er hatte einen überladenen Rahmen aus Spiegelglas und war mit den hässlichsten Blumen und Schnörkeln aus Glas verziert. »Ich hoffe«, sagte die junge Frau, »dass Sie sich von mir nicht werden abhalten lassen.« »Aber ich fürchte, Sie zu stören«, sagte Arabella. »Aber ganz und gar nicht.« Die junge Frau deutete auf die Bilder. »Bitte. Schauen Sie sich um.«
Da sie das Gefühl hatte, eine Weigerung wäre ein noch größerer Bruch der Etikette, dankte Arabella der jungen Frau und betrachtete die anderen Gemälde, aber nicht so ausgiebig wie zuvor, weil sie sich bewusst war, dass die junge Frau sie die ganze Zeit im Spiegel beobachtete.
Als sie fertig war, bat die junge Frau Arabella, Platz zu nehmen. »Und wie gefallen sie Ihnen?«, fragte sie. »Nun«, sagte Arabella, »sie sind gewiss wunderschön. Die Bilder von Umzügen und Festen gefallen mir besonders – so etwas gibt es in England nicht. So viele flatternde Standarten. So viele vergoldete Boote und schöne Kostüme. Aber mir scheint, der Künstler liebt Gebäude und blauen Himmel mehr als Menschen. Er hat sie so klein gemalt, so unbedeutend. Zwischen den vielen Marmorpalästen und den Brücken wirken sie nahezu verloren. Finden Sie nicht auch?«
Das schien die junge Frau zu amüsieren. Sie lächelte schmerzlich. »Verloren?«, sagte sie. »Ja, ich glaube, sie sind wirklich verloren, die armen Seelen. Denn letztlich ist Venedig nichts anderes als ein Labyrinth – gewiss, ein riesiges und schönes Labyrinth, aber nichtsdestoweniger ein Labyrinth, und nur die ältesten Bewohner kennen sich dort aus – das ist zumindest mein Eindruck.«
»Wirklich?«, sagte Arabella. »Das muss bestimmt unangenehm sein. Aber andererseits ist das Gefühl, sich in einem Labyrinth verirrt zu haben, gewiss ganz wunderbar. Ach, ich glaube, ich würde fast alles dafür geben, dorthin zu fahren.«
Die junge Frau bedachte sie mit einem eigentümlichen melancholischen Lächeln. »Wenn Sie wie ich Monate dort verbracht und sich erschöpft durch endlose dunkle Gassen geschleppt hätten, würden Sie anders darüber denken. Das Vergnügen, sich in einem Labyrinth zu verlaufen, verliert
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