Jonathan Strange & Mr. Norrell
kein Glockenläuten?«, fragte Strange. »Hörst du Glocken läuten?«, wandte er sich an Arabella.
»Nein, ich höre nichts.«
Sir Walter errötete und murmelte etwas von Glocken, die in seiner und der benachbarten Pfarrgemeinde nicht mehr geläutet würden.
»Wirklich?«, sagte Strange. »Warum denn nicht?«
Sir Walter blickte drein, als wäre er Strange dankbar gewesen, hätte dieser seine Neugier gezügelt, aber er sagte: »Lady Poles Krankheit hat bedauerlicherweise ihre Nerven angegriffen. Sie leidet heftig unter dem Läuten der Glocken, deswegen habe ich die Kirchenvorstände von St.-Mary-le-bone und St. Peter gebeten, aus Rücksicht auf Lady Poles Nerven auf das Läuten der Kirchenglocken zu verzichten, und sie waren so freundlich, sich einverstanden zu erklären.«
Das war sehr ungewöhnlich, aber andererseits galt Lady Poles Krankheit gemeinhin als überaus ungewöhnlich, mit Symptomen wie bei keinem anderen Gebrechen. Weder Mr. noch Mrs. Strange hatten Lady Pole je gesehen. Niemand hatte sie seit zwei Jahren gesehen.
Als sie in der Harley Street 9 eintrafen, wollte Strange sofort Sir Walters Dokumente studieren, aber er musste seine Ungeduld ein wenig zügeln, während Sir Walter dafür Sorge trug, dass es Arabella während ihrer Abwesenheit an nichts mangelte. Sir Walter war ein wohlerzogener Mensch und ließ Gäste in seinem Haus nicht gern allein. Eine Dame sich selbst zu überlassen, empfand er als besonders schlimm. Andererseits wollte Strange unbedingt pünktlich zu seiner Verabredung mit Mr. Norrell erscheinen. So schnell, wie Sir Walter Ablenkungen vorschlug, mühte er sich nachzuweisen, dass Arabella ihrer nicht bedurfte.
Sir Walter zeigte Arabella die Romane im Bücherschrank und empfahl Belinda von Mrs. Edgeworth als besonders vergnüglich. »Ach«, unterbrach ihn Strange, »ich habe Arabella Belinda vor zwei oder drei Jahren vorgelesen. Außerdem werden wir nicht so lange brauchen, dass sie einen dreibändigen Roman lesen kann.«
»Dann vielleicht etwas Tee und Kümmelkuchen?«, sagte Sir Walter zu Arabella.
»Aber Arabella mag keinen Kümmelkuchen«, schaltete Strange sich ein, nahm gedankenverloren Belinda in die Hand und begann im ersten Band zu lesen. »Das ist etwas, was sie überhaupt nicht mag.«
»Dann ein Glas Madeira«, sagte Sir Walter. »Sie werden bestimmt ein Glas Madeira trinken. Stephen! ... Stephen, bring Mrs. Strange ein Glas Madeira.«
Auf die unheimliche, lautlose Art, wie sie den gut geschulten Londoner Dienstboten eigen ist, tauchte neben Sir Walter ein großer schwarzer Diener auf. Mr. Strange schien über sein plötzliches Erscheinen erschrocken und starrte ihn ein paar Augenblicke unverwandt an, bevor er zu Arabella sagte: »Du willst keinen Madeira, nicht wahr? Du möchtest doch gar nichts.«
»Nein, Jonathan. Ich möchte gar nichts«, pflichtete seine Frau ihm bei und lachte über diesen seltsamen Wortwechsel. »Danke, Sir Walter, aber ich bin es zufrieden, still hier zu sitzen und zu lesen.«
Der schwarze Diener verneigte sich und zog sich so lautlos zurück, wie er gekommen war, und Strange und Sir Walter gingen, um über die französische Flotte und die vermissten englischen Schiffe zu beraten.
Aber als sie allein war, stellte Arabella fest, dass sie nicht in der Stimmung war zu lesen. Als sie sich im Raum nach Ablenkung umschaute, fiel ihr Blick auf ein großes Gemälde. Es stellte eine Waldlandschaft und eine Schlossruine auf einer Klippe dar. Die Bäume waren dunkel, und die Ruine und die Klippe strahlten im goldenen Licht eines Sonnenuntergangs; der Himmel dagegen war lichterfüllt und glühte perlweiß. Ein großer Teil des Vordergrunds wurde von einem silbrigen Teich eingenommen, in dem eine junge Frau zu ertrinken schien; eine zweite Gestalt beugte sich über sie – ob es sich dabei um einen Mann, eine Frau, einen Satyr oder einen Faun handelte, war nicht festzustellen, und obwohl Arabella ihre Haltung ausgiebig studierte, konnte sie nicht entscheiden, ob die zweite Gestalt die junge Frau retten oder umbringen wollte. Als Arabella von diesem Gemälde genug hatte, schlenderte sie in den Flur, um sich die Bilder dort anzuschauen, aber da es sich überwiegend um Aquarelle von Brighton und Chelmsford handelte, langweilte sie sich rasch.
Sir Walter und Strange waren aus einem Raum zu vernehmen. »... außergewöhnlich! Aber auf seine Art ist er ein vortrefflicher Mensch«, sagte Sir Walter.
»Oh! Ich weiß, wen Sie meinen. Er hat einen Bruder,
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