Jonathan Strange & Mr. Norrell
betraf hauptsächlich das Essen, das sie gern essen würden, die Reize der abwesenden Frauen und Verlobten, denen sie sich gern hingeben würden, und die weichen Federbetten, in denen sie gern schlafen würden.
Strange und Hauptmann Whyte blieben die halbe Nacht und fast den ganzen nächsten Tag im Waffenturm und widmeten sich der stumpfsinnigen Beobachtung der Neapolitaner. Gegen Abend des zweiten Tages brachte ein Adjutant eine Nachricht von Wellington. Seine Lordschaft hatte das Hauptquartier an einem Ort namens Flores de Avila aufgeschlagen, und Strange und Hauptmann Whyte wurden gebeten, ihn dort aufzusuchen. Also packten sie Stranges Bücher und die Silberschale ein, suchten ihre anderen Habseligkeiten zusammen und machten sich auf den heißen, staubigen Weg.
Flores de Avila war, wie sich herausstellte, ein ziemlich unbedeutender Ort; keiner der Spanier, die Hauptmann Whyte befragte, hatte je davon gehört. Aber wenn zwei der größten Armeen Europas kürzlich die Straße benutzt haben, dann hinterlassen sie unvermeidlich Spuren ihres Vorbeiziehens; Strange und Hauptmann Whyte hielten es für das Beste, der Fährte aus weggeworfenem Gepäck, kaputten Karren, Leichen und schwarzen Aasgeiern zu folgen. Vor dem Hintergrund der leeren, von Steinen übersäten Ebenen ähnelten diese Anblicke Ausschnitten aus mittelalterlichen Darstellungen der Hölle und veranlassten Strange zu zahlreichen düsteren Bemerkungen über den Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges. Normalerweise hätte sich Hauptmann Whyte, der Berufssoldat war, bemüßigt gefühlt, darüber zu streiten, doch auch er war so betroffen von dem bedrückenden Charakter ihrer Umgebung, dass er lediglich antwortete: »Wie wahr, Sir. Wie wahr.«
Aber ein Soldat sollte sich nicht allzu lange mit solchen Dingen aufhalten. Sein Leben ist voller Beschwernisse, und er muss sich sein Vergnügen holen, wo er kann. Wenngleich er manchmal Zeit braucht, um über die Grausamkeiten, die er sieht, nachzudenken, so muss man ihn doch nur zu seinen Kameraden bringen, und seine Laune wird sich unweigerlich wieder bessern. Strange und Hauptmann Whyte erreichten Flores de Avila gegen neun Uhr, und binnen fünf Minuten begrüßten sie fröhlich ihre Freunde, hörten sich den neuesten Klatsch über Lord Wellington an und erkundigten sich eingehend nach der Schlacht des vorangegangenen Tages – eine weitere Niederlage für die Franzosen. Man konnte kaum annehmen, dass sie in den letzten zwölf Monaten irgendetwas gesehen hatten, das sie bedrückte.
Das Hauptquartier war in einer verfallenen Kirche an einem Hang oberhalb des Dorfes aufgeschlagen worden, und Lord Wellington, Fitzroy Somerset, Oberst De Lancey und Major Grant warteten dort auf sie.
Gemessen an der Tatsache, dass Lord Wellington zwei Schlachten in ebenso vielen Tagen gewonnen hatte, war er nicht gerade bester Laune. Die französische Armee, die in ganz Frankreich für ihre hohe Marschgeschwindigkeit gerühmt wurde, war ihm entkommen und hatte sich bereits ein ganzes Stück in Richtung Valladoid und Sicherheit bewegt. »Es ist mir völlig schleierhaft, wie sie so schnell vorwärts kommen«, beklagte er sich, »ich würde viel darum geben, sie einzuholen und zu vernichten. Aber das ist die einzige Armee, die ich habe, und wenn ich sie verschlissen habe, bekomme ich keine neue.«
»Wir haben von den Neapolitanern mit den Kanonen gehört«, informierte Major Grant Strange und Hauptmann Whyte. »Sie fordern hundert Dollar pro Stück. Insgesamt sechshundert Dollar.«
»Zu viel«, sagte Seme Lordschaft knapp. »Mr. Strange, Hauptmann Whyte, ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich?«
»Kaum, mein Lord«, sagte Strange. »Die Neapolitaner sind in einem Wald. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo dieser Wald ist. Ich bin nicht sicher, wie wir weiter vorgehen sollen. Ich habe mein gesamtes Wissen erschöpft.«
»Dann müssen Sie schnell etwas anderes in Erfahrung bringen!« Einen Moment lang sah Strange so aus, als wollte er Seiner Lordschaft eine ungehaltene Antwort entgegensetzen, aber er besann sich eines Besseren und erkundigte sich, ob die siebzehn toten Neapolitaner sicher aufbewahrt wurden.
»Sie wurden in den Glockenturm gesteckt«, sagte Oberst De Lancey. »Unteroffizier Nash passt auf sie auf. Wofür auch immer Sie sie benötigen, gebrauchen Sie sie bald. Ich glaube nicht, dass sie in dieser Hitze lange halten.«
»Sie werden noch eine weitere Nacht halten«, sagte Strange. »Die Nächte
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