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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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entschlossen, die flüchtenden Franzosen weiter zu verfolgen.
    Die Stadt mit ihren Kirchen, Klöstern und mittelalterlichen Gebäuden hob sich in perfekter Klarheit gegen den schimmernden Himmel ab. Trotz der frühen Stunde (es war kurz nach halb sechs) waren die Bewohner bereits auf den Beinen. Schon wurden die Glocken geläutet, um die Niederlage der Franzosen zu feiern. Regimenter von müden britischen und portugiesischen Soldaten zogen durch die Straßen, und die Bewohner der Stadt traten aus ihren Häusern, um ihnen Geschenke – Brot, Obst und Blumen – in die Hände zu drücken. An einer Mauer waren Karren mit Verwundeten aufgereiht, und der zuständige Offizier sandte Männer aus, damit sie das Hospital und andere Orte zur Behandlung ausfindig machten. Unterdessen waren fünf oder sechs Nonnen, die einen einfachen, aber tatkräftigen Eindruck machten, aus einem der Klöster eingetroffen und kümmerten sich um die Verwundeten; sie flößten ihnen schluckweise frische Milch aus Blechtassen ein. Kleine Jungen, die niemand mehr überreden konnte, im Bett zu bleiben, grüßten aufgeregt jeden Soldaten, den sie sahen, und bildeten improvisierte Siegesparaden hinter jedem, der sich daran nicht störte.
    Lord Wellington blickte sich um. »Watkins!«, rief er einem Soldaten in Artillerieuniform zu.
    »Ja, mein Lord?«, sagte der Mann.
    »Ich bin auf der Suche nach meinem Frühstück, Watkins. Sie haben nicht zufällig meinen Koch gesehen?«
    »Feldwebel Jefford sagte, er habe gesehen, wie Ihre Leute zur Burg hinaufgingen, mein Lord.«
    »Danke, Watkins«, sagte Seine Lordschaft und ritt mit seinen Begleitern weiter.
    Die Burg von Alba de Tormes hatte nicht viel von einer Burg. Zu Beginn des Krieges vor vielen Jahren war sie von den Franzosen belagert worden, und mit Ausnahme des Turms lag sie vollständig in Trümmern. Vögel und wilde Tiere bauten ihre Nester, wo einst der Herzog von Alba in unermesslichem Luxus gelebt hatte. Die herrlichen italienischen Wandgemälde, für die die Burg einmal berühmt gewesen war, waren jetzt, da die Decken fehlten und Regen, Hagel, Graupel und Schnee deutliche Spuren hinterlassen hatten, ein ganzes Stück weniger eindrucksvoll. Dem Speisesaal fehlte ein wenig der Komfort, den man in anderen Speisesälen vorfand; er war zum Himmel hin offen, und in seiner Mitte wuchs eine kleine Birke. Doch davon ließen sich Lord Wellingtons Dienstboten kein bisschen stören; sie waren es gewohnt, Seiner Lordschaft das Essen an viel merkwürdigeren Orten zu servieren. Sie hatten einen Tisch neben die Birke gestellt und ihn mit einem weißen Tuch gedeckt. Während Wellington und seine Begleiter zur Burg hinaufritten, hatten sie gerade begonnen, Teller mit Brötchen, Scheiben von spanischem Schinken, Schüsseln mit Aprikosen und Schalen mit frischer Butter auf den Tisch zu stellen. Wellingtons Koch machte sich daran, Fisch und Nierchen zu braten und Kaffee zu kochen.
    Die vier Herren setzten sich. Oberst De Lancey bemerkte, er könne sich nicht erinnern, wann er seine letzte Mahlzeit eingenommen habe. Jemand anderer stimmte ihm zu, und dann widmeten sie sich alle dem ernsthaften Geschäft des Essens und Trinkens.
    Sie hatten gerade begonnen, ein wenig von ihrer gewöhnlichen Verfassung wiederzuerlangen und etwas gesprächiger zu werden, als Major Grant eintraf.
    »Ah! Grant«, sagte Lord Wellington. »Guten Morgen. Setzen Sie sich und frühstücken Sie.«
    »Gleich, mein Lord. Doch erst habe ich Nachrichten für Sie. Ziemlich überraschende. Es sieht so aus, als hätten die Franzosen sechs Kanonen verloren.«
    »Kanonen?«, sagte Seine Lordschaft ohne großes Interesse. Er nahm sich ein weiteres Brötchen und ein paar gebratene Nierchen. »Natürlich haben sie Kanonen verloren. Somerset!«, sagte er und wandte sich an seinen Militärsekretär. »Wie viele Kanonen habe ich gestern erobert?«
    »Elf, mein Lord.«
    »Nein, nein, mein Lord«, sagte Major Grant. »Ich bitte um Verzeihung, aber Sie verstehen mich falsch. Ich spreche nicht von den Kanonen, die wir gestern in der Schlacht eroberten. Diese Kanonen waren nie in der Schlacht. Sie waren auf dem Weg von General Caffarelli im Norden zur französischen Armee. Aber sie trafen nicht rechtzeitig zur Schlacht ein. Ja, sie trafen überhaupt nicht ein. Da er wusste, dass Sie in der Gegend waren, mein Lord, und die Franzosen schwer unter Druck setzten, war General Caffarelli darauf bedacht, sie mit aller Eile herzubringen. Aus den ersten dreißig

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