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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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die Wunden, die sie hatten, ums Leben gekommen zu sein, doch alle waren nackt ausgezogen, und manchen hatte man die Finger abgeschnitten – damit man ihnen die Ringe leichter abnehmen konnte. Einer war ein gut aussehender junger Mann gewesen, aber jemand hatte ihm die Zähne gezogen (um ein künstliches Gebiss anzufertigen) und die Haare abgeschnitten (um Perücken zu machen), und von seiner Schönheit war nicht mehr viel übrig.
    Strange bat einen Mann, ein scharfes Messer und sauberes Verbandsmaterial zu holen. Als das Messer gebracht wurde, legte er den Rock ab und krempelte die Hemdsärmel hoch. Dann murmelte er auf Lateinisch vor sich hin. Als Nächstes schnitt er sich tief in den Arm, und als ein kräftiger Blutstrahl herausspritzte, ließ er ihn auf die Köpfe der Leichen tropfen, wobei er sicherstellte, dass Augen, Zunge und Nasenflügel jedes Toten benetzt wurden. Einen Augenblick später erwachte die erste Leiche zum Leben. Ein furchtbares kratzendes Geräusch war zu hören, als die ausgetrockneten Lungen sich mit Luft füllten und die Glieder sich auf eine Art schüttelten, die man nur mit Schrecken anschauen konnte. Dann erwachte eine Leiche nach der anderen zum Leben und begann in einer kehligen Sprache zu sprechen, die einen wesentlich größeren Anteil an Schreien aufwies als jede andere den Zuschauern bekannte Sprache.
    Selbst Wellington sah ein wenig blass aus. Nur Strange machte augenscheinlich ungerührt weiter.
    »Lieber Gott!«, rief Fitzroy Somerset aus. »Was für eine Sprache ist das?«
    »Ich glaube, es ist einer der Dialekte der Hölle«, sagte Strange.
    »Wirklich?«, sagte Somerset. »Nun, das ist bemerkenswert.«
    »Sie haben ihn sehr schnell gelernt«, sagte Lord Wellington. »Sie sind erst seit drei Tagen tot.« Er mochte es, wenn Leute Dinge schnell und professionell erledigten. »Aber sprechen Sie diese Sprache?«, fragte er Strange.
    »Nein, mein Lord.«
    »Wie werden wir uns dann mit ihnen unterhalten?«
    Zur Antwort packte Strange den Kopf der ersten Leiche, öffnete die plappernden Kiefer und spuckte ihr in den Mund. Umgehend begann die Leiche in ihrer ursprünglichen, irdischen Sprache zu sprechen – ein breiter neapolitanischer Dialekt, der den meisten Leuten genauso unverständlich und fast so schrecklich vorkam wie die Sprache, die sie vorher gesprochen hatte. Er hatte allerdings den Vorteil, dass Hauptmann Whyte ihn mühelos verstand.
    Mit Hauptmann Whytes Hilfe verhörten Major Grant und Oberst De Lancey die toten Neapolitaner und waren über die erhaltenen Antworten hocherfreut. Im Tod waren die Neapolitaner unendlich eifriger als jeder lebende Spitzel darum bemüht, ihren Fragestellern zu gefallen. Anscheinend hatten all die armen Kerle kurz vor ihrem Tod in der Schlacht von Salamanca eine Geheimbotschaft von ihren Landsleuten erhalten, die sie über den Raub der Kanonen informierte und ihnen befahl, sich in ein Dorf wenige Meilen nördlich von Salamanca zu begeben. Dort würde es ihnen ein Leichtes sein, den Wald mit Hilfe geheimer Kreidezeichen an Bäumen und auf Felsbrocken zu finden.
    Major Grant nahm eine kleine Abteilung der Kavallerie mit sich, und nach ein paar Tagen kehrte er sowohl mit den Kanonen als auch mit den Deserteuren zurück. Wellington war begeistert.
    Leider gelang es Strange nicht, den Zauber zu finden, der die toten Neapolitaner in ihren bitteren Schlaf zurücksandte. 73 Er unternahm zahlreiche Versuche, erzielte jedoch wenig Wirkung, außer in einem Fall, als sämtliche Soldaten mit einem Mal auf einundzwanzig Fuß Länge anwuchsen und seltsam durchsichtig wurden; sie wirkten wie riesige Gemälde aus Wasserfarbe auf dünnen Baumwollbahnen. Als Strange sie wieder auf ihre normale Körpergröße gebracht hatte, blieb das Problem, was mit ihnen zu tun sei, bestehen.
    Zunächst gesellte man sie zu den französischen Gefangenen. Doch die anderen Gefangenen beschwerten sich lauthals darüber, dass man sie mit diesen torkelnden und schlurfenden Schreckensgestalten zusammensperrte. (»Und ehrlich gesagt«, bemerkte Lord Wellington, als er die Leichen mit Abscheu beäugte, »kann man es ihnen nicht verdenken.«)
    Als daher die Gefangenen nach England geschickt wurden, blieben die toten Neapolitaner bei der Armee. Sie reisten den ganzen Sommer in einem Ochsenkarren und waren auf Lord Wellingtons Befehl hin gefesselt. Die Fesseln sollten ihre Bewegungen einschränken und sie auf der Stelle halten, doch die toten Neapolitaner hatten keine Angst vor Schmerz

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